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Reiz an Tolkien durch seine fragmentarische Unvollkommenheit


raukothaur

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(eigentlicher Thementitel, da zu lang:)
Reiz an J.R.R. Tolkien durch seine fragmentarische & fetzentechnische Unvollkommenheit (nach Nietzsche)

 

Reiz der Unvollkommenheit. – Ich sehe hier einen Dichter, der, wie so mancher Mensch, durch seine Unvollkommenheiten einen höheren Reiz ausübt als durch alles das, was sich unter seiner Hand rundet und vollkommen gestaltet – ja, er hat den Vorteil und den Ruhm vielmehr von seinem letzten Unvermögen als von seiner reichen Kraft. Sein Werk spricht es niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er gesehen haben möchte: es scheint, daß er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und niemals sie selber – aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredsamkeit des Verlangens und Heißhungers. Mit ihr hebt er den, welcher ihm zuhört, über sein Werk und alle »Werke« hinaus und gibt ihm Flügel, um so hoch zu steigen, wie Zuhörer nie sonst steigen: und so, selber zu Dichtern und Sehern geworden, zollen sie dem Urheber ihres Glücks eine Bewunderung, wie als ob er sie unmittelbar zum Schauen seines Heiligsten und Letzten geführt hätte, wie als ob er sein Ziel erreicht und seine Vision wirklich gesehen und mitgeteilt hätte. Es kommt seinem Ruhme zugute, nicht eigentlich ans Ziel gekommen zu sein. [Die fröhliche Wissenschaft, zweites Buch, Nummer 79]

 

Nietzsche schrieb das natürlich nicht auf Tolkien bezogen oder für Tolkien (da Tolkien noch gar nicht lebte), sondern es ist eher allgemein über gewisse Dichter, Schriftsteller geschrieben. Dennoch ist es imho auf Tolkien sehr gut anwendbar. Dies wird hier als These in den Raum gestellt (und es geht hier nur um J.R.R.).
Ziel des Threads ist es, zu schauen, ob und warum diese These stimmen könnte.
Es geht um Tolkiens fragmentarisches Vermächtnis und seine überwiegende Fetzentechnik im Erzählstil bzw. sein distanziertes und zeitlich komprimiertes Erzählen für verhältnismäßig ziemlich lange Zeiträume. Es ist (nach Nietzsche) also fraglich, ob Tolkien, wenn er sein Legendarium bzw. seine entsprechenden Werke vollendet hätte können, überhaupt so berühmt und beliebt geworden wäre, und ob, wenn er ausführlicher bzw. 'vollendeter' erzählt hätte, man ihn so oft lesen würde.

Threadtitel und Fragestellung sind variabel. Den Thread öffne ich in Absprache Dunderklumpens. Von daher sind Fragestellung und Ziel erst einmal grob formuliert und können verfeinert werden.  

Bearbeitet von seregthaur
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Gast Joran aus den Schatten

Tolkiens Ziel war es bekanntermaßen, eine Art englische Nationalmythologie zu schaffen, "a mythology for England" (vgl. etwa Simek, Mittelerde - Tolkien und die germanische Mythologie, Verlag C.H. Beck 2005, S. 22). Wenn man Tolkiens Gesamtwerk als das Bemühen um das Erschaffen einer neuen, eigenständigen "(Ersatz-)Mythologie" versteht, die lediglich inspiriert wurde durch andere (ebenfalls unvollkommen) überlieferte Mythen insbesondere des nordischen Kulturkreises, dann erscheint es mir undenkbar, eine solche Arbeit zu "vollenden", ohne das Werk in seinem ursprünglichen Ansatz zu zerstören.

 

Es erscheint mir das Wesen einer jeden mir bekannten Mythologie, dass der Mensch sie lediglich in groben Zügen erfassen und begreifen kann und sie Mysterien immer beinhalten wird, die der Mensch nicht gänzlich aufklären oder erklären kann. In dem Moment, in dem der Mensch alle Geheimnisse des Mythos ergründen und erklären würde, würde sich das göttliche Element notgedrungen verflüchtigen. Der Mythos würde bestenfalls entweder zur Sage oder zu historischen Tatsachen. Aus Glauben würde Gewissheit. Das gilt meines Erachtens jedenfalls für den traditionellen religiösen Mythos, der eine Verknüpfung zwischen dem menschlichen Dasein und der Welt der Götter herstellt. Und von einem solchen wird man schon angesichts der Schöpfungsgeschichte bei Tolkiens Werk ausgehen müssen.

 

Egal wieviel J.R.R. Tolkien oder Christopher Tolkien noch zu diesem Mythos geschrieben und veröffentlicht haben bzw. hätten, immer müssten Fragen offen bleiben, um den Mythos nicht zu zerstören. Und es erscheint auch des Umfanges wegen kaum denkbar, einen "glaubwürdigen" Mythos von der Schöpfungsgeschichte bis zur Gegenwart vollständig abzuhandeln.

 

Ich kann mir nicht vorstellen, dass es je Tolkiens Absicht war, seinen Mythos in dem Sinne einer 'Vollkommenheit', wie sie das Gegenstück zu der von Nietzsche angesprochenen 'Unvollkommenheit' wäre, zu vervollständigen.

 

Richtig mag sein, und das erschiene mir durchaus plausibel, dass die Faszination für Mythen / Religionen allgemein häufig gerade aus deren 'Unvollkommenheit' im vorgenannten Sinne resultiert, weil nur eine solche 'Unvollkommenheit' den Raum für Glauben und die Suche nach tieferen Erkenntnissen eröffnet.

 

Die Faszination für Tolkiens Mythologie leidet meines Erachtens nicht, wenn zunächst lediglich angedeutete Geschichten "enträtselt" werden. Die Szene an der Wetterspitze, in der Aragorn von Beren und Lúthien erzählt, hat für mich nie dadurch an Reiz verloren, dass ich die Geschichte von Beren und Lúthien später gelesen habe. Jedesmal, wenn ich den HdR lese, freue ich mich wieder darauf. Die Erkenntnis, es mit Fragmenten - oder meinetwegen 'Fetzen' - zu tun zu haben, selbst eröffnet nur die Hoffnung, mehr vorfinden zu können. Der Wunsch auf mehr Erkenntnisse aus weiteren Texten hingegen beruht meines Erachtens auf der Kraft des Fragmentes selbst und der hieraus resultierenden Faszination, nicht aus dem Wissen alleine, dass es mehr gibt oder geben könnte.

 

Ins 'Profane' übertragen: Ob mir das erste Buch einer Serie gefällt, hängt nicht davon ab, dass ich um die Existenz von Folgebänden weiß. Meine Wertschätzung steigt aber, wenn ich schon im ersten Band den Eindruck gewinne, eine über alle Folgebände durchdachte, komplexe und überzeugende Geschichte vorzufinden.

Bearbeitet von Joran aus den Schatten
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Hallo, Joran.
Dies wäre dann quasi ein doppelter Reiz an Tolkien, dieser Reiz ist aber nicht auf ihn zurückzuführen, da er jeder Mythologie eigen ist. Der Reiz an seiner fragmentarischen und fetzentechnischen Unvollkommenheit ist imho unabhängig von seiner Mythologie. Wenn er seine Werke vollendet hätte, bliebe die Mythologie dennoch bestehen. Nur wäre das Fragmentarische nicht mehr da. Das Fragmentarische und Mythologische sind getrennt zu betrachten, da das eine mit dem anderen erst mal nichts zu tun hat. Tolkien konnte sein Legendarium (hier seine für ihn relevanten Werke) nicht beenden. Und hier ist basierend auf Nietzsche die Frage, ob ihm dies zugute gekommen ist. Dass Mythologie generell einen Reiz durch seine spezifische Unvollkomenheit und durch seine 'normale' Fetzentechnik hat, ist ein anderes Thema. Denn wenn Du sagen wolltest, dass der Reiz an Tolkien in dem Typikum der Mythologie liegt, ist dies für mich unzureichend, da ich in dem Thread schauen möchte, ob Nietzsches Zitat auf Tolkiens Fragmentur anwendbar ist.

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Gast Dunderklumpen

Ich finde dieses Nietzsche-Zitat, wenn man es in Zusammenhang mit Tolkien sehen möchte, geradezu umwerfend.

 

seregthaur hatte mir das Zitat per PN geschickt, und ich fragte ihn, ob er daraus nicht einen Thread machen möchte.

Danke auf jeden Fall, dass Du das gemacht hast, sereghtaur.

 

Nietzsche spricht hier von einem Dichter, der nicht die volle dichterische Kraft hat, aus seinem Werk etwas Rundes und Vollkommenes zu schaffen. Allein dies trifft schon auf Tolkien zu, meine ich.

 

Dann aber begründet Nietzsche das auch noch genauer:

dieser Dichter habe nicht wirklich "Visionen", also eine Art innerer Bilder, , sondern nur eine Art Vorgeschmack davon. Er habe aber eine ungeheure Sehnsucht nach diesen Bildern und Visionen, und diese starke Sehnsucht treibe ihn voran und mache ihn unglaublich beredt.

 

Und das, sagt Nietzsche, übe auf die Zuhörer einen sehr viel größeren Reiz aus als runde und vollkommene Werke. Denn die Zuhörer werden gerade durch diese Beredsamkeit und Sehnsucht nach den wahren Visionen weit über die real verfassten Werke gehoben und erhoben und werden dadurch selber zu Sehern und Visionären. Und sie verehren diesen Dichter darum dermaßen, weil sie durch ihn dazu gekommen sind, obwohl der Dichter selber diese Visionen ja eben gerade nie erreichen konnte (was sie vielleicht nicht einmal gemerkt haben).

 

Das Werk Tolkiens ist vollgespickt mit Protagonisten, die Sehnsucht nach den wahren Visionen und Bildern haben und sie nie erreichen. Ich denke, Tolkien selber rang ebenfalls darum; das könnte ich belegen, würde aber zu lange dauern.

 

Jedenfalls brach er immer wieder ab und begann von vorne, änderte und änderte.

Nietzsche meint allerdings nicht unbedingt, dass die Werke nach außen unfertig sind, sondern nach innen hin. Die entscheidenden Dinge werden nicht ausgesprochen, sagt Nietzsche. Und dadurch wird ein Heer von Lesern aufgescheucht, die nun selber die nur angedeuteten Visionen für sich wahr machen, oder wahr machen wollen.

 

Ich weiß nicht, ob bekannt ist, von welchem Dichter Nietzsche spricht. Aber es ist, als ob er von Tolkien spricht, Wort für Wort.

 

Ein Volltreffer, sereghtaur.

 

(Alles nur meine Meinung.)

 

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Gast Joran aus den Schatten

Ich bin noch immer nicht überzeugt, dass das Zitat von Nietzsche auf Tolkien übertragbar ist:

 

Nietzsche spricht nicht von der Unvollkommenheit des Werkes, sondern von der Unvollkommenheit und dem Unvermögen des Dichters, die im Werk seinen Niederschlag findet. Nietzsche unterstellt dem Dichter, dass dessen Werk sich aufgrund des Unvermögens des Dichters auf Andeutungen beschränkt, dem Dichter mithin seine mangelhafte Kompetenz beim Publikum im Ergebnis zum Vorteil gereicht.

 

Segethaurs Frage nach der Beliebtheit und dem Erfolg Tolkiens, wenn er sein Legendarium hätte vollenden können, hatte ich - vielleicht fehlerhaft - im Sinne der hierfür erforderlichen zeitlichen Möglichkeiten (Lebensdauer) verstanden. Und hier gehe ich davon aus, dass Tolkien sein Werk überhaupt nicht im Sinne einer Lückenlosigkeit vervollständigen wollte, selbst wenn er die erforderliche Zeit gehabt hätte, weil das dem Wesen eines Mythos widersprochen hätte. Ich glaube auch, dass er sich bewusst war, dass hierfür seine Lebensspanne ohnehin nicht ausreichen würde (daher doch auch die Öffnung für "other hands" und "other minds" und das Vermächtnis, dass Christopher nach seinem Gutdünken mit dem literarischen Nachlass verfahren solle),

 

Ich sehe bislang aber keinen Anhaltspunkt dafür, dass Tolkien, auch wenn er entsprechende viel Zeit zur Verfügung gehabt hätte, sein "Legendarium (hier seine für ihn relevanten Werke)" in diesem Sinne aufgrund mangelhafter Fähigkeiten nicht hätte fertigstellen können. Worin soll sich das schwerwiegende Unvermögen Tolkiens als Dichter manifestieren? Mir fällt kein Dichter ein, der eine fantastische Welt / einen Mythos mit mehr Akribie, Detailreichtum und Überzeugungskraft entwickelt hätte oder - um Nietzsche aufzugreifen - dessen "Vision" sich weniger lediglich in einem "Vorgeschmack" erschöpfte.

 

Dass Tolkien viele Geschichten zunächst nicht vollendete oder später Einzelheiten änderte, ist meines Erachtens kein Zeichen von "Unvermögen", sondern von Fortentwicklung und Vertiefung.

 

Dass Protagonisten in Tolkiens Werken Sehnsucht nach wahren Visionen und Bildern haben, die sie nicht erreichten, erscheint mir ein typisches Element von Mythen. Es ist aber kein Beleg dafür, dass Tolkien selbst keine (einem ständigen Wandel und einer Verfeinerung unterliegenden) Vision seines 'Legendariums' besaß, ohne den von ihm erschaffenen 'Mythos' aus den genannten Gründen jemals lückenlos vervollständigen zu wollen.

 

Ich kann für mich auch nicht feststellen, dass Tolkien in den Werken, die er vollendet hat, 'niemals ganz ausspricht, was er eigentlich aussprechen möchte, was er gesehen haben möchte'. Der Hobbit und der Herr der Ringe sind für mich nicht lediglich ein Vorgeschmack, sondern in sich geschlossene Werke. Ich kann nicht erkennen, dass Tolkien in diesen Werken aufgrund einer eigenen dichterischen 'Unvollkommenheit' weniger gesagt hätte, als er gerne hätte sagen wollen, wie es Nietzsche dem dort angesprochenen Dichter unterstellt. Wo Tolkien es bei Andeutungen beließ, erfolgte das meines Erachtens gezielt und ganz bewusst, um einen glaubhaften Mythos mit den diesem immanenten offenen Fragen sowie Zeitalter übergreifenden tiefen Verflechtungen und Bezügen zu schaffen.

 

Auch der Raum für eine Weiterentwicklung und die einem Mythos immanente 'Unvollkommenheit' kann meines Erachtens Bestandteil eines unter der Hand eines Dichters 'gerundeten und vollkommen gestalteten' Werkes sein.

 

Kurz gesagt: Die teils fragmentarische Natur eines (infolge Todes unvollendeten) Werkes läßt keine zwingende Schlussfolgerung auf ein 'Unvermögen' des Dichters oder eine (über das einem jeden Menschen naturgemäß innewohnende Maß hinausgehende) 'Unvollkommenheit' seiner Person zu.

 

Es erscheint mir falsch, den Reiz eines Werkes nur dann auf die 'reiche Kraft' des Dichters anstelle des unterstellten 'Unvermögens' des Dichters zurückzuführen, wenn es in sich gänzlich geschlossen ist und keine Fragen offen lässt. Ich frage mich vielmehr, ob ein in diesem Sinne verstandenes Werk eines 'vollkommenen Dichters' auf mich überhaupt einen über das einmalige Lesen hinaus länger andauernden Reiz ausüben könnte.

 

Das Zitat von Nietzsche ist interessant und bedenkenswert, aber meines Erachtens nicht allgemeingültig und vor allem nicht 'umkehrbar'. Das Unvermögen eines Dichters mag im Einzelfall zu einem reizvollen, fragmentarischen Werk führen. Ein Werk, das nicht alles offenbart, was der Dichter 'gesehen hat', lässt hingegen nicht zwingend auf ein Unvermögen des Dichters schließen. Sonst würde man den Dichtern ganzer Strömungen in der Literatur wohl den Stempel der Mittelmäßigkeit aufdrücken.

Bearbeitet von Joran aus den Schatten
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Sehr schön. Hiermit stehen zwei gegensätzliche Thesen im Raum. :-O

Nun müssten eig. Belege her. Dunderklumpen meinte, welche anführen zu können. Wäre äußerst gespannt, diese zu erfahren.

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Gast Dunderklumpen

Nun müssten eig. Belege her. Dunderklumpen meinte, welche anführen zu können. Wäre äußerst gespannt, diese zu erfahren.

 

Ich sagte, dass ich keine hier bringen könne, da das viel zu lange dauere. :-) Und ich sprach nur von Belegen dafür, dass Tolkiens Werk gespickt sei mit Suchenden nach Visionen. Das, denke ich, weiß ohnehin jeder, der Tolkiens Werke gelesen hat.

 

Ich möchte im Moment nur das eine noch zu Jorans Ausführungen sagen:

 

Tolkien schrieb in einem Brief sinngemäß, dass er einmal so größenwahnsinnig gewesen sei, eine Mythologie für England schaffen zu wollen - aber dass er das nicht getan habe.

 

In den "Lost Tales" können wir diesen Ansatz noch erkennen, da er Tol Eressea als das spätere England konzipiert hatte. Aber schon gegen Ende seiner Arbeit an diesem Werk - sage jetzt ich -, oder wenig später, merkte er, dass er so englandspezifisch nicht bleiben könne, da sich die Spielorte weit über England hinaus ausdehnten. Ich glaube, Christopher schrieb irgendwo, dass das auch ein Grund sein könne, dass die "Lost Tales" diese vielen schon rein geographischen Ausdehnungen - Mittelerde - nicht mehr verarbeiten könnten. Darum habe er dieses Werk eigentlich abbrechen müssen, es waren zu viele widersprüchliche Ideen darin.

 

Das Auenland ist vielleicht noch ein Restbestand vom alten England, aber über die Mythologie der Hobbits hat Tolkien so gut wie nichts geschrieben.

Bearbeitet von Dunderklumpen
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Ich finde, so unterschiedlich sind die zwei Thesen garnicht.

Man müsste sie jetzt nur noch zusammenführen, was ich mir allerdings nicht zufriedenstellend zutraue (ein Unvermögen meinerseits...:D )

 

Joran hat auf jeden Fall recht damit, dass man aus Nietzsches Zitat nicht den Umkehrschluss ziehen darf. Und Geschichten, die wirklich keine Fragen offen lassen, stell ich mir auch ziemlich trocken vor.

 

Allerdings schließt sich die "reiche Kraft" und das "Unvermögen" nicht aus, es kann sich beides wunderbar ergänzen. Jemand, der zwar eine gute Idee hat, die nur nicht vollkommen ist, aber diese Idee nicht zu Papier bringen kann, weil er sie nicht formulieren kann, der wird auch keinen sonderlichen Reiz auf die Masse an Lesern ausüben.

Wenn aber nun jemand eine gute Idee hat, diese auch ausformuliert und das auch noch auf hohem literarischen Niveau, auch komplet in sich geschlossene Werke zu dieser Idee zustande bringt (den Hobbit und den HdR zähl ich jetzt mal zu solchen), so jemand hat eine starke dichterische Kraft, auch wenn er sein Endziel nicht erreichen kann.

 

Die Frage, die sich nun stellt, ist, ob Tolkien in Nietzsches Schema fällt oder nicht.

Auch wenn er von Anfang an gewusst hatte, dass er sein Legendarium nie vollenden können wird, würde das seine Leistung nicht mindern, auch wenn er "unvermögend" war. Ich finde, das verdient noch mehr Respekt, ein Werk anzufangen, von dem man weiß, dass man es nie zu seiner eigenen Zufriedenheit fertigstellen können wird (was nicht mit "es sind keine Fragen mehr darin offen" zu verwechseln ist).

 

Meine Meinung ;)

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Gast Joran aus den Schatten

@ Dunderklumpen

 

Damit, dass Tolkiens Konzeption/Gesamtziel sich wandelte von einer Ersatzmythologie Englands weg zu einem weiter gefassten Ansatz (wenn man das so ausdrücken kann), hast Du wohl recht, wobei ich Tolkiens Briefe leider nicht gelesen habe. (Aber ich habe inzwischen akzeptiert, dass ich langfristig an der englischen Fassung der HoMe nicht vorbeikommen werde.)

 

Wenn ich jedoch den Hobbit und den HdR als von J.R.R. Tolkien selbst veröffentlichten Werke betrachte, kann ich diese nicht unter das Nietzsche-Zitat subsumieren.

 

Und die Nachrichten aus Mittelerde, die verschollenen Geschichten etc. wurden schließlich nicht mehr von J.R.R. Tolkien selbst als vollendete Werke veröffentlicht, sondern sind postum veröffentlichte Zusammenstellungen aus dem Nachlass Tolkiens. Ihre Inhalte können als von J.R.R. Tolkien selbst lediglich als 'Entwürfe' betrachtete und nicht zur unmittelbaren Veröffentlichung bestimmte Texte meines Erachtens nicht dem Maßstab des Nietzsche-Zitates unterworfen werden. Ihr fragmentarischer Charakter ist auf den Tod Tolkiens zurückzuführen, nicht auf ein dichterisches Unvermögen Tolkiens, sie zu vollenden, meine ich. Man betrachtet schließlich auch die Skizzen vieler Maler mit Interesse, obwohl sie nur Entwürfe darstellen, ohne an dem Vermögen der jeweiligen Künstler zu zweifeln, solche Werke auch zu vollenden.

Bearbeitet von Joran aus den Schatten
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Gast Dunderklumpen

(Aber ich habe inzwischen akzeptiert, dass ich langfristig an der englischen Fassung der HoMe nicht vorbeikommen werde.)

 

O Mann, was toll. Dann wärst Du schon der zweite hier im Forum, der in letzter Zeit sich dazu entschieden hat. Ich kann nur sagen, dass das auch für einen selber bereichernd ist.

 

 

Wenn ich jedoch den Hobbit und den HdR als von J.R.R. Tolkien selbst veröffentlichten Werke betrachte, kann ich diese nicht unter das Nietzsche-Zitat subsumieren.

 

Wir müssen uns auch gar nicht gegenseitig zu unserer Sicht bekehren. Ich selber muss in dem Fall noch mehr begründen (möchte das aber eher im Fließtext tun, und dazu muss ich dann auch immer erst die Ruhe finden), und ich denke, es reicht, wenn jeder seine Sicht auf den Tisch legt.

 

Im Direktzitat will ich dann nur das kommentieren, was ich als sachlich unkorrekt werte. Dazu gleich im Folgenden:

 

 

Ihr fragmentarischer Charakter [der posthumen Werke] ist auf den Tod Tolkiens zurückzuführen, nicht auf ein dichterisches Unvermögen Tolkiens, sie zu vollenden, meine ich.

 

Dieser fragmentarische Charakter ist nicht auf den Tod Tolkiens zurückzuführen. Als Tolkien die Lost Tales ca 1920 abbrach, war er 28 Jahre alt. Und danach produzierte er Abbbrüche einen nach dem anderen. Kein einziger Abbruch davon ist auf den Tod Tolkiens zurückzuführen, auch nicht bezogen auf die Silmarillion-Sagen.

Gerade diese hatte er sein Leben lang in so vielen unterschiedlichen 'Varianten produziert, dass er am Ende aufgab, das noch unter einen Hut zu kriegen, lange vor seinem Tod.

 

Gerade dieses 'nie zufrieden sein mit dem, was schon auf dem Papier stand' zeigt mir, dass Tolkien tief empfand, dass nichts Gesagtes wirklich gültig ist, nicht in seiner singulären Form.

 

 

Darum noch etwas zu dem "Vermögen" eines Dichters. Ich denke, Nietzsche meinte damit nicht mangelnde Qualität bezüglich des Schreibens, sondern das prinzipielle Unvermögen, das Eigentliche, das Wesentliche dinghaft zu visionalisieren, als Vision zu erleben.

Wenn man in "Fröhliche Wissenschaft" ein wenig vor- und zurückblättert - das Werk gibt es mehrfach online -, dann sieht man auch seine Sympathie für die, die über das Tragische nicht das Netz des Redens legen, sondern es nur andeuten.

 

Ich meine, dahinter steht die grundlegende Unterscheidung in der Kunst zwischen klassischer Form und romantischer Form. Nietzsche war ein scharfer Diagnostiker seiner Zeit, der die Verlogenheit der äußeren Vollkommenheit später an tausenden Punkten nachwies. 

 

Eventuell kann man das Klassische als eine Verbildlichung des "Seins" beschreiben, das Romantische hingegen als eine Andeutung des "Werdens".

 

Dass Tolkien nicht in der Tradition des Klassischen steht, sondern in der des Romantischen, scheint mir klar. Ob Tolkien selber das aber erkannte, weiß ich nicht. Aber sein Verhalten im Entwerfen seiner Werke zeigt, dass er ein Thema in zig Varianten dichtete, obwohl er das gar nicht vorhatte. Er wollte nur ein wenig korrigieren, und schon wird eine ganz neue Version daraus. Das ist typisch für die sprudelnde Phantasie eines romantischen Geistes, der nie Genügen findet an dem einmal so und nicht anders Gesagten.

 

"Hobbit" und LotR sind fertig geworden, weil er dazu einen Verlag hatte. Dennoch ist der LotR - in meinen Augen - nach innen hin alles andere als fertig. Er hat einen offenen Anfang und ein offenes Ende.

 

Die Moderne, sagt man heute mehr und mehr, begann mit der Romantik; mit dem Zweifel an abgeschlossenen Aussagen. Nietzsche war ein Romantiker, ohne es vielleicht schon zu wissen. Aber er hat genau das diagnostiziert, was die damalige Zeit noch zu verbergen suchte: die Rissigkeit von Wahrheiten.

 

Darum bin ich ziemlich sicher, dass Nietzsche das lobend meinte: die Unfähigkeit, etwas rund und vollkommen zu schaffen. Denn zu letzterem gehörte das Übersehen des wirklich Tragischen.

 

Im Grunde glaube ich, dass Nietzsche mit dem in seinem Aphorismus erwähnten Dichter sich selber meinte. Und in Nietzsche haben wir eines der größten Genies; aber an der Dichtkunst scheiterte er.

 

Tolkien ist in meinen Augen gerade durch seine fragmentarische Schreibweise - auch in fertigen Erzählungen des Sil, das sind nie je abgeschlossene Handlungen, sondern immer nur Spots auf Teile eines "unendlichen Zusammenhanges"- ein Genie. Und wie bei Nietzsche meine ich genau darin das Genie aufblitzen zu sehen, wo er vom "Sein" oder vom "Werden" allen Geschehens ergriffen war und es nur durch minimalistische Andeutung auch für den Leser aufblitzen lassen kann.

 

Wo er durch Veröffentlichung gezwungen war, etwas fertig zu stellen, war er durchschnittlich.

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Gast Joran aus den Schatten

Hmmm, ich kann die Begriffe 'Unvermögen' und 'Unvollkommenheit' des Dichters bei Nietzsche schwer mit Deiner Wertung 'Genie' in Einklang bringen. Für mich sind dies zunächst einmal Gegensätze

 

Deine persönliche (positive) Einschätzung Tolkiens kann ich weitgehend teilen, Dunderklumpen. Lediglich glaube ich nicht, dass Tolkien im Hobbit und im HdR Dinge unausgesprochen gelassen hat, weil er sie nicht zu sagen 'vermochte', sondern weil er sie an dieser Stelle bewusst unausgesprochen lassen wollte.

 

Auch in Deinen Aussagen zur Romantik finde ich mich grundsätzlich wieder.

 

Aber ob Nietzsche seine Aussage im bezeichneten Zitat tatsächlich im Sinne einer Wertschätzung gegenüber solchen 'unvollkommenen' bzw. 'unvermögenden' Dichtern gemeint hat, bin ich im Zweifel. Aus dem Zitat alleine selbst lässt sich das für mich nicht entnehmen. Du magst aber Recht haben. Um mir hierzu eine qualifiziertere Meinung bilden zu können, müsste ich wohl über das hier zur Diskussion gestellte Zitat hinaus den vollständigen Text von Nietzsche lesen.

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Kurzer Off-Topic-Exkurs zu Nietzsche:
 

Nietzsche war ein Romantiker, ohne es vielleicht schon zu wissen.

Woher nimmst Du das? Ich sehe das nämlich nicht so.

Darum bin ich ziemlich sicher, dass Nietzsche das lobend meinte: die Unfähigkeit, etwas rund und vollkommen zu schaffen.

Dem stimme ich zu.

Und in Nietzsche haben wir eines der größten Genies; aber an der Dichtkunst scheiterte er.

An der Dichtkunst eines Goethes, Heines etc. freilich. Aber imho nicht an der sarkastisch analytischen Dichtkunst (oder wie man das nennen soll). Beispiel:

Auf Goethes

Alles Vergängliche | Ist nur ein Gleichnis; | Das Unzulängliche, | Hier wird´ s Ereignis; | Das Unbeschreibliche, | Hier ist´ s getan; | Das Ewig-Weibliche | Zieht uns hinan.

antwortete er

An Goethe || Das Unvergängliche | Ist nur dein Gleichnis! | Gott, der Verfängliche, | Ist Dichter-Erschleichnis ... || Welt-Rad, das rollende, | Streift Ziel auf Ziel: | Not – nennts der Grollende, | Der Narr nennts – Spiel ... || Welt-Spiel, das herrische | Mischt Sein und Schein: - | Das Ewig-Närrische | Mischt uns – hinein! ...

 

 

Um mir hierzu eine qualifiziertere Meinung bilden zu können, müsste ich wohl über das hier zur Diskussion gestellte Zitat hinaus den vollständigen Text von Nietzsche lesen.

MMn nicht, da Nietzsche ja generell immer in nach nummerierten und mit kurzen Überschriften besehenen mehr oder weniger kurzen Texten zu einem Thema Stellung bezieht. Ich wüsste nicht, was es konkret hier weiter hilft, in der fröhlichen Wissenschaft zu lesen. 

Bearbeitet von seregthaur
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Gast Dunderklumpen

Nietzsche war ein Romantiker, ohne es vielleicht schon zu wissen.

Woher nimmst Du das? Ich sehe das nämlich nicht so.

 

Das war meine Schlussfolgerung aus dem, was ich vorher über das Klassische und das Romantische geschrieben habe. Das Gedicht, das Du im letzten post von ihm zitiert hast, ist doch z.B. ein Paradebeispiel für romantisches Denken.

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Inwiefern schließt das einander aus? Sollte das Missverständnis darauf beruhen: Dunderklumpen verwendet Romantik nicht im Sinne romantischer Liebe, sondern meint damit die literarische Strömung der Romantik.

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Weiß nicht, ob es hier wirklich passt, aber ich habe heute beim Lesen was gefunden, was mich sofort an den Thread erinnert hat:

 

Nehmen denn die Abenteuer kein Ende? Vermutlich nicht.Immer muss einer kommen und die Geschichte fortsetzen. Na, da kann man nichts machen. Ich frage mich: Lohnt es sich überhaupt, dass ich mein Buch zu Ende zu Schreiben versuche?

 

Das sagt Bilbo zu Frodo, als sie sich in Bruchtal treffen (2.Buch, 1. Kapitel: Viele Begegnungen).

 

Vielleicht meinte Tolkien das ja auch irgendwie Autobiographisch? Er erschafft ein Werk und es führt ihn immer weiter und er weiß nicht, wohin sie ihn führen und ob er je zu einem Ende kommen wird...

Nur ein Verdacht meinerseits, aber nicht uninteressant, finde ich.

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Gast Dunderklumpen

Und hier gehe ich davon aus, dass Tolkien sein Werk überhaupt nicht im Sinne einer Lückenlosigkeit vervollständigen wollte, selbst wenn er die erforderliche Zeit gehabt hätte, weil das dem Wesen eines Mythos widersprochen hätte.

 

Auf Deine Mythos-Überlegungen komme ich hoffentlich noch ein andermal zurück. Aber meinem Verstehen nach spricht Nietzsche nicht von der Vollständigkeit eines Werkes, sondern von dem "Runden" des Werkes. Wenn jemand nicht in der Lage ist, ein rundes Weltbild vorzulegen - weil es ihm zerfallen ist -, dann kann das zwar zur Folge haben, dass er lauter Fragmente hinterlässt: aber das muss nicht sein. Es kann auch so sein, dass die Werke - obwohl abgeschlossen - in sich selber zerrissen sind, also nur Aspekte bieten.

 

Jetzt komme ich doch nicht ganz darum herum, kurz auf Deine Mythos-Überlegungen zurückzugreifen.

 

Die Homer-Werke werden in der Regel als mythische aufgefasst, aber sie sind "rund". Keiner im Werk zweifelt an der Existenz der Götter, sie spazieren auf der Erde herum, nehmen manchmal die Gestalt eines Bekannten an und geben in dieser angenommenen Gestalt Mensch X einen wichtigen Tipp. Erst, wenn der Bekannte plötzlich davonflattert in die Lüfte, merken sie, dass ein Gott oder eine Göttin kurz mit ihnen geredet hat.

 

Im HdR hingegen tut sich bei solchen Sachen Ratlosigkeit auf. Gandalf stirbt und kommt wieder - aber der Leser erfährt nicht, wie das möglich ist. Ein Unding in einem klassischen Epos. Aber Tolkien leistet es sich, solche Lücken zu lassen.

 

Tolkiens Werk durchzieht der Gedanke der Wiedergeburt. Aber er baut kein rundes Werk auf, in dem Wiedergeburt zu seinem Weltbild gehört. Es wird einfach keine gegründete Weltsicht sichtbar, sondern nur eine in der Form wie "Genaues weiß man nicht".

 

Nach Georg Lukács basieren die antiken mythischen Epen auf einem runden und geschlossenen Weltbild. Damit ist nicht gemeint, dass alle Geheimnisse deutlich ausgesprochen sind - Mystik und Mythos sind nicht das Gleiche -, sondern wohl eher, dass die mythischen Götter zur Verfügung stehen, in dem System ihren Platz haben. Da gibt es keine Zweifel an der Existenz der Götter.

 

In den fertigen und halbwegs fertigen Romanen Tolkiens aber existiert kein in sich ruhendes Weltbild, sondern da sind unruhige Gesellen unterwegs, die Hunger und Durst nach einem gewissen "Etwas" haben. Und Tolkien hat - meines Wissens - nicht eine einzige Figur gezeichnet, die ans Ziel gelangt ist. Das ist das, was ich als fragmentarisch empfinde. Lauter Suchende, von denen Tolkien nicht weiß, wie er sie ans Ziel bringen soll.

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Inwiefern schließt das einander aus? Sollte das Missverständnis darauf beruhen: Dunderklumpen verwendet Romantik nicht im Sinne romantischer Liebe, sondern meint damit die literarische Strömung der Romantik.

So etwas Absurdes wie "romantische Liebe" traue ich Dunderklumpen nicht zu. Bin auch davon ausgegangen, dass er romantisch im Sinne der Epoche der Romantik meint. Dennoch danke der Nachfrage, hätte ja sein können. ;)

Für mich kam Romantik nicht in Frage, da das Gedicht - wenn es überhaupt eines ist - auf zynischer Art und Weise mit Goethe abrechnet, insbesondere mit dem von mir zitierten Endversen aus Faust, der Tragödie zweiter Teil. Daher würde ich gerne wissen, inwiefern es romantisch ist. Vielleicht liegt es auch einfach daran, dass Dunderklumpen viel besser über die Eigenheiten der Romantik Bescheid weiß, während ich derzeit nur grobe Vorstellungen habe. 

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Gast Dunderklumpen

Weiß nicht, ob es hier wirklich passt, aber ich habe heute beim Lesen was gefunden, was mich sofort an den Thread erinnert hat:

 

Nehmen denn die Abenteuer kein Ende? Vermutlich nicht.Immer muss einer kommen und die Geschichte fortsetzen. Na, da kann man nichts machen. Ich frage mich: Lohnt es sich überhaupt, dass ich mein Buch zu Ende zu Schreiben versuche?

 

Das sagt Bilbo zu Frodo, als sie sich in Bruchtal treffen (2.Buch, 1. Kapitel: Viele Begegnungen).

 

Vielleicht meinte Tolkien das ja auch irgendwie Autobiographisch? Er erschafft ein Werk und es führt ihn immer weiter und er weiß nicht, wohin sie ihn führen und ob er je zu einem Ende kommen wird...

Nur ein Verdacht meinerseits, aber nicht uninteressant, finde ich.

 

 

Mit dem Autobiographischen bin ich immer etwas vorsichtig. Auf jeden Fall aber kann man sagen, denke ich, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass die literarische Technik, die Tolkien benutzt, dem Bilbo als Problem erscheint, oder als Fragezeichen. Dazu kann man ja auch "sein" Lied nehmen, dass der eigene Weg stets vor der eigenen Haustür beginnt und ab da nicht mehr kontrollierbar ist.

 

Ich meine schon, dass das von Dir Zitierte genau in die Kerbe haut, die wir gerade in Arbeit haben, Bregalad. Bilbo hat jedenfalls sein Buch nie zu Ende geschrieben.

 

Tolkien war zu dem Zeitpunkt, als er das Bilbo in den Mund legte, maximal 62 Jahre alt (im Jahr 1954). War also noch weit von seinem Tod entfernt (er starb 19 Jahre später). Die Frage, oder die Problematik, dass Geschichten keinen wirklichen Anfang und kein wirkliches Ende haben, hatte er also schon spätestens da, möglicherweise aber schon, als er überhaupt anfing zu schreiben.

 

Der Witz ist nur, dass Tolkien - wie man im Märchenaufsatz nachlesen kann - fasziniert war von schönen runden Schlüssen, die die Geschichte zwar nicht abrundeten, aber sie in eine Art Rahmen hüllten ("Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute").

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Gast Dunderklumpen

@ sereghtaur

 

Der Thread würde meiner Meinung nach durch ein aufuferndes OT Schaden erleiden, darum empfehle ich Dir für Deine Nachfragen bezüglich der Romantik ein Werk aus der Zeit der literarischen Romantik:

 

"Die Nachtwachen des Bonaventura"

http://de.wikipedia.org/wiki/Nachtwachen

 

Die Schlüsselworte in dieser Erzählung sind genau die, die in dem Nietzsche-Zitat vorkommen: Schein/Sein, Der Mensch als Narr, Alles ist Spiel, das rollende Weltrad.

 

Das rollende Weltrad spielt auch in ein paar Aufsätzen von

"Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders" von Wackenroder/Tieck eine wesentliche Rolle.

 

Beide Werke sind online auffindbar. :-)

 

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Das ist das, was ich als fragmentarisch empfinde. Lauter Suchende, von denen Tolkien nicht weiß, wie er sie ans Ziel bringen soll.

 

Wenn man das Vorwort zum HdR liest, die Entstehungsgeschichte, dann kommt das (für mich) auch so rüber, als wäre er selbst mit auf der Reise und Suche, ohne jemals zu wissen, wo es für ihn hin geht!

 

Mit dem Autobiographischen bin ich immer etwas vorsichtig. Auf jeden Fall aber kann man sagen, denke ich, dass zumindest die Möglichkeit besteht, dass die literarische Technik, die Tolkien benutzt, dem Bilbo als Problem erscheint, oder als Fragezeichen. Dazu kann man ja auch "sein" Lied nehmen, dass der eigene Weg stets vor der eigenen Haustür beginnt und ab da nicht mehr kontrollierbar ist.

 

Ich meine schon, dass das von Dir Zitierte genau in die Kerbe haut, die wir gerade in Arbeit haben, Bregalad. Bilbo hat jedenfalls sein Buch nie zu Ende geschrieben.

 

Tolkien war zu dem Zeitpunkt, als er das Bilbo in den Mund legte, maximal 62 Jahre alt (im Jahr 1954). War also noch weit von seinem Tod entfernt (er starb 19 Jahre später). Die Frage, oder die Problematik, dass Geschichten keinen wirklichen Anfang und kein wirkliches Ende haben, hatte er also schon spätestens da, möglicherweise aber schon, als er überhaupt anfing zu schreiben.

 

Der Witz ist nur, dass Tolkien - wie man im Märchenaufsatz nachlesen kann - fasziniert war von schönen runden Schlüssen, die die Geschichte zwar nicht abrundeten, aber sie in eine Art Rahmen hüllten ("Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute").

 

Bilbo sucht ja auch schon seinen Schluß, und auch den von Frodos Buch, auch wenn bei beiden das Ende noch nicht abzusehen ist, bzw. bei Frodo das Abenteuer noch garnicht richtig angefangen hat.

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Gast Dunderklumpen

Lediglich glaube ich nicht, dass Tolkien im Hobbit und im HdR Dinge unausgesprochen gelassen hat, weil er sie nicht zu sagen 'vermochte', sondern weil er sie an dieser Stelle bewusst unausgesprochen lassen wollte.

 

Ich bin gestern auf ein paar Sätze aus Das Buch der Verschollenen Geschichten Band I gestoßen, die möglicherweise illustrieren können, weshalb meiner Meinung nach das Nietzsche-Zitat genau Tolkiens Punkt trifft. Und sie kommentieren auch, denke ich, das, was Du, Joran, in dem von mir Zitierten geschrieben hast.

 

Diese Sätze stammen aus dem Ersten Kapitel Die Hütte des Vergessenen Spiels. Dieser Text ist wahrscheinlich der frühest niedergeschriebene aus den Lost Tales, er stammt von 1916/17, wie Christopher herausgefunden hat.

 

In diesem Text erzählt Vaire - die Hausherrin -, dass die Hütte des Vergessenen Spiels - in dem sie sich befinden -, nach dem Vorbild einer anderen Hütte gebaut worden ist, die sich in Valinor befindet, nahe der Stadt Kor.

Diese Ursprungshütte hieß "Hütte der Kinder" oder "Hütte des Spiels des Schlafs", und zu ihr führte einst der Olore Malle, der Pfad des Traums. Hier kamen menschliche Kinder nach Valinor und spielten in dieser Hütte.

 

Und jetzt folgt das Zitat, von dem ich sprach:

 

Ja, es gab sogar einige, die in Kor gewesen und danach heimgekehrt waren, und ihre Gedanken und und Herzen waren des Staunens voll. Aus den verschwommenen Erinnerungen jener, aus ihren unfertigen Erzählungen und abgebrochenen Liedern erwuchsen viele sonderbare Sagen, welche die Menschen lange entzückten und es vielleicht noch immer tun: Aus diesen Kindern nämlich wurden die Dichter der Großen Lande.

 

HIer wird also hergeleitet, dass aus den verschwommenen Erinnerungen an Trauminhalte unfertige Erzählungen und abgebrochene Lieder entstanden waren, die wiederum zu sonderbaren Sagen führten. Und dass es Dichter waren, die aus diesen unklaren Traumerinnerungen diese Erzählungen und Sagen geformt haben.

 

Damit ist - innerhalb der Lost Tales - die Methode erläutert, durch die Menschen an die Sagen und Erzählungen gekommen sind: durch unklare Traumerinnerungen.

 

Diesen Grundgedanken hat Tolkien auch noch dreißig Jahre später aufgegriffen und weiterentwickelt, in den Notion Club Papers. Dort sitzen reale Menschen, die sich an ihre Träume erinnern, die Erinnerungsfähigkeit schulen und sich Tipps geben, wie man daraus Dichtungen machen kann.

 

Die "Unfähigkeit", vollkommen zu sein, basiert also auf dem literarischen Konzept: die Erzählungen und Sagen stammen aus dem Unterbewussten, das immer nur fragmentarisch oder gar fetzenhaft zur Verfügung steht und in dichterischer und auch sonderbarer Weise zu literarischen Werken geformt wird.

 

Zunächst ist es nur eine Hypothese von mir, dass dieses innerhalb der Erzählungen formulierte literarische Konzept auch das Konzept ist, das Tolkien selbst bereits in den Lost Tales anwendet, möglicherweise überhaupt der Anstoß seines literarischen Schreibens ist.

 

Insofern wäre das "Unvermögen", die Vision überhaupt komplett zu haben, zu einem literarischen Konzept gemacht: die Visionen seien notgedrungen verschwommen, weil der Mensch eben nur verschwommene Erinnerungen aus dem Unterbewussten geliefert bekomme.

 

Insofern ist das, was Du, Joran, in dem Zitierten schreibst, kein Widerspruch. Das, was nicht geht, wird zum Konzept gemacht. Oder, anders ausgedrückt: aus der Not wird eine Tugend gemacht.

 

Jedenfalls von denen, die die menschliche Tiefe ausloten wollen.

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@ Dunderklumpen

Du scheinst den Olore Malle in den Verschollenen als etwas Abstraktes zu interpretieren, den die Betreffenden nicht physisch, sondern nur geistig-mental im Traum erleben, sofern ich Dich richtig verstehe.
Was ist aber, wenn der Olore Malle einen Pfad darstellen soll, der wirklich physisch begehbar ist, sodass die Betreffenden tatsächlich in Kor waren. Anhand welcher Belege kann welche Interpretation begründet werden?

Bearbeitet von seregthaur
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