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Magischer Realismus - auch bei Tolkien?


Gast Dunderklumpen

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Gast Dunderklumpen

Angeregt durch ein im Heiteren-Bücher-Rate-Thread zu erratendes Buch "Die Mitternachtskinder" von Salman Rushdie - das dem Magischen Realismus zuzuordnen sei - eröffne ich diesen Thread.

 

Ich frage mich nämlich schon lange, ob man auch Tolkien dem Magischen Realismus zuordnen könne, zumindest im LotR.

 

Um dem näherzukommen, wäre vielleicht gut, erst mal Folgendes zu sammeln:

 

a. Welche Autoren werden dem Magischen Realismus zugeordnet oder würdet Ihr ihm zuordnen?

b. Welche Kriterien nehmt Ihr oder nehmen wir als Zeichen für den Magischen Realismus wahr?

 

Und dann könnte man c. Stellen oder Handlungsstränge bei Tolkien sammeln, die den Kriterien entsprechen bzw. den Kriterienkatalog erweitern könnten.

 

Halte ich für eine ausgesprochen spannende Sache.

Tut Euch keinen Zwang an. :-)

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Ich kenne mich ja mit magischem Realismus nicht so wirklich aus. Ich denke, dass der Unterschied zur reinen Fantasy der ist, dass ein realistischer Anteil da sein muss. Bei den Mitternachtskindern ist das meiner Ansicht nach die Verankerung in der indischen Geschichte. Hat der HdR eine solche realistische Komponente? Am ehesten sehe ich die noch in den Notion Club Papers gegeben (die ich allerdings vor ziemlich genau 10 Jahren gelesen habe).

 

Bei Wikipedia habe ich übrigens diese netten Zitate zum Thema gefunden:

 

Einige Autoren sehen enge Übereinstimmungen zwischen magischem Realismus und Fantasy. In einem Interview definierte Gene Wolfe den magischen Realismus folgendermaßen: “Magic realism is fantasy written by people who speak Spanish.”[3] Laut Terry Pratchett ist es “a polite way of saying you write fantasy” und “more acceptable to certain people”, sich als Autor dem magischen Realismus anstelle der Fantasy zuzuordnen.[4]

 

Gene Wolfe würde also sagen, Tolkien ist kein magischer Realist, Pratchett sieht das anders. ;-)

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Ich kenne den magischen Realismus lediglich als Phänomen in der lateinamerikanischen Kunst und insbesondere im lateinamerikanischen Film. Die dortigen Merkmale sind grundsätzlich, dass die Geschichte zwar in der "realen" Welt spielt, in dieser Welt jedoch phantastische Elemente auftreten, die nicht erklärt und auch nicht thematisiert werden. Das heisst, dass sich die Figuren in der Geschichte gar nicht über die übersinnlichen Elemente wundern, sondern sie einfach hinnehmen (so unlogisch das auch wirken mag). Eine gewisse Nähe zum Surrealismus ist also gegeben. 

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Ich kenne den magischen Realismus lediglich als Phänomen in der lateinamerikanischen Kunst und insbesondere im lateinamerikanischen Film. Die dortigen Merkmale sind grundsätzlich, dass die Geschichte zwar in der "realen" Welt spielt, in dieser Welt jedoch phantastische Elemente auftreten, die nicht erklärt und auch nicht thematisiert werden. Das heisst, dass sich die Figuren in der Geschichte gar nicht über die übersinnlichen Elemente wundern, sondern sie einfach hinnehmen (so unlogisch das auch wirken mag). Eine gewisse Nähe zum Surrealismus ist also gegeben. 

 

Im Zusammenhang mit südamerikanischen Autoren und deren Romanen bin ich auch das erste Mal auf den Begriff des 'Magischen Realismus' gestossen. Mir hatte dieses Genre von Anfang an gefallen. Das Nebeneinander von Realität und Übernatürlichem, das ganz selbstverständlich gleichberechtigt nebeneinander existiert, finde ich faszinierend.

Autoren, die ich dem magischen Realismus zuordnen würde: Isabel Allende, Gabriel Garcia Marques, Paulo Coelho, Jorge Louis Borges, Julio Cortazar.

 

Setzt man diese Definition vorraus, sehe ich Tolkiens HdR nicht in diesem Genre, da dem HdR die Realitätsebene fehlt. Würde man den Begriff etwas erweitern, in dem man sagt, man setzt eine an der Wirklichkeit stark orientierte Realität vorraus in das sich übernatürliche Elemente mischen, dann würde der HdR durchaus wieder passen.

 

Ich habe hier noch eine interessante und wie ich finde ganz passende Definition:

 

"Phantastischer (Magischer) Realismus heißt, das es auch für das Phantastische (Magische) und Wunderbare Erklärungen und Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Welt gibt und das die phantastischen (magischen) und realistischen Elemente der Welt miteinander verzahnt sind" ( Das Schwarze Auge)
Bearbeitet von Torshavn
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Gast Dunderklumpen
Ich denke, dass der Unterschied zur reinen Fantasy der ist, dass ein realistischer Anteil da sein muss. Bei den Mitternachtskindern ist das meiner Ansicht nach die Verankerung in der indischen Geschichte. Hat der HdR eine solche realistische Komponente?

 

Bei dieser Aussage merke ich, dass ich unter "Realismus" innerhalb der Literatur etwas anderes verstehe. Ich verstehe darunter nicht, dass das Werk sich auf reale Ereignise im außerliterarischen Bereich beziehen muss, sondern dass der Schreibstil ein realistischer ist. Das kann - und ist meistens auch, habe ich das Gefühl - auch in einer völlig erfundenen Geschichte der Fall sein.

 

"Detailtreue" ist zum Beispiel ein Kriterium für den Realismus, schreibt Wikipedia im Artikel "Realismus".

Landschaftsbeschreibungen en detail zum Beispiel sind für mich ein Zeichen für einen realistischen Stil.

 

Magisch wird dieser Realismus für mich dann, wenn das Reale eine magische Wirkung bekommt, also eine Landschaft nicht nur einfach schön real da rumliegt, sondern mich zum Beispiel zu bedrohen anfängt. Mit anderen Worten: wenn sie auch mythische Qualität hat oder bekommt, die nicht neutral ist, sondern angereichert ist mit z.B. kollektiver Erinnerung. Wenn Legolas irgendwo sagt, dass die Steine sich noch an die Elben erinnern und untereinander flüstern, dann ist das für mich magischer Realismus.

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Gast Dunderklumpen

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Ich kenne den magischen Realismus lediglich als Phänomen in der lateinamerikanischen Kunst und insbesondere im lateinamerikanischen Film. Die dortigen Merkmale sind grundsätzlich, dass die Geschichte zwar in der "realen" Welt spielt, in dieser Welt jedoch phantastische Elemente auftreten, die nicht erklärt und auch nicht thematisiert werden.

 

Meinst Du mit "realer Welt" eine Welt, die in unserer außerliterarischen historisch verankert sein muss, oder eine Welt, die innerhalb der Geschichte real ist?

 

Wikipedia schreibt zum Magischen Realismus gerade bei der lateinamerikanischen Dichtung, dass dort die traditionellen Mythen mit der Wirklichkeitswahrnehmung verschmolzen sind.

Das müsste eigentlich heißen, dass ganz reale Dinge auch magische Wirkung haben.

Wenn Aragorn für Frodo nach Athelas sucht, die eine magisch zugefügte Wunde heilen kann, dann ist die Pflanze ganz real beschrieben - nicht wundersam wie in der Romantik z.B. -, sie wächst im Wald wie andere Pflanzen auch, aber sie hat eine magische Wirkung - sichtbar auch später in den Häusern der Heilung.

 

Surrealismus wäre für mich anders. Da bricht eine andere Realität über den Menschen ein - hier aber liegt das Magische verborgen in den realen Dingen.

 

Ich weiß aber nicht, ob ich richtig liege, denn ich habe noch keine Werke gelesen, die als Magischer Realismus bezeichnet werden.

 

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Bearbeitet von Dunderklumpen
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Gast Dunderklumpen
Setzt man diese Definition vorraus, sehe ich Tolkiens HdR nicht in diesem Genre, da dem HdR die Realitätsebene fehlt.

 

Das ist jetzt natürlich im HdR das Problem: da gibt es eine realistisch anmutende Welt, die aber, verglichen mit unserer, nicht existierten kann, weil wir keine Hobbits haben.

 

 

 

Würde man den Begriff etwas erweitern, in dem man sagt, man setzt eine an der Wirklichkeit stark orientierte Realität vorraus in das sich übernatürliche Elemente mischen, dann würde der HdR durchaus wieder passen.

 

Ja, genau. Die Reisen werden so pingelig genau beschrieben, dass sie auf Landkarten eingetragen werden können. Dennoch sind diese Wege keine realistischen, oder nicht nur. Sie sind lebendig, erzählen Geschichten.

 

 

Ich habe hier noch eine interessante und wie ich finde ganz passende Definition:

 

"Phantastischer (Magischer) Realismus heißt, das es auch für das Phantastische (Magische) und Wunderbare Erklärungen und Gesetzmäßigkeiten innerhalb der Welt gibt und das die phantastischen (magischen) und realistischen Elemente der Welt miteinander verzahnt sind" ( Das Schwarze Auge)

 

Das finde ich auch gut! Das Realistische und das Magische ist miteinander verzahnt.

 

Wenn etwas auf Tolkien zutrifft, dann das, finde ich. Der Krieg gegen Mordor ist zugleich ein realistischer Krieg - man kämpft mit realen Waffen - und ein magischer Krieg - der Schwarze Schatten ist ein psychischer oder mentaler Angriff (er verursacht grundlosen Schrecken), und man versucht ihn mit magischem Licht (Gandalf, Glorfindel) und Willensstärke zu vertreiben.

 

Würde ich das mal kurz auf unsere realen Kriege beziehen, dann würde das heißen: auch sie haben eine magische oder mythische Komponente, die es eben nur zu identifizieren gilt.

Der Magische Realismus deckt auf, dass das scheinbar Reale magische Potenz hat, die es zu brechen gilt.

 

Könnte das stimmen, was ich sage, oder verrenne ich mich?

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Gast Dunderklumpen

Noch eine weitere - erweiternde - Überlegung dazu:

 

Offenbar ist der Magische Realismus im Bereich Literatur dort entstanden, wo Mythen noch als real empfunden werden.

Westeuropäer können davon fasziniert sein, aber in der Regel glauben sie nicht daran, dass Hunde einen plötzlich ansprechen.

 

Sind einige vielleicht genau aus diesem Grund von lateinamerikanischen Autoren fasziniert, weil dort etwas als glaubhaft geschildert wird, was sie selber nicht glauben?

 

Wie also könnten dann westeuropäische Autoren das Wunderbare in Verquickung mit dem Realen schildern, wenn es ihnen selber ganz fremd ist?

 

Könnte es sein - überlege ich mir gerade -, dass bei uns eben stattdessen die "Fantasy" entstanden ist, wo man munter draufloskonstruieren kann, ohne selber daran zu glauben? Und dass dies auch der Grund sein könnte, warum sie literarisch in der Regel nicht hochwertig ist?

 

Denn hochwertige Literatur - nach einem meiner Kriterien - muss weh tun. Muss eine Wunde berühren oder eine bewusst machen. Also z.B. Verdrängtes tabus schildern.

Möglich auch, dass sie - auf ähnlichem Weg - mitunter befreiend sein kann.

 

Darum kann ich mir bei uns den Magischen Realismus nur so vorstellen, dass er Mythen oder Mystifikationen als real schildert, weil sie eben - wenn auch unsichtbar - vorhanden sind. Der Künstler macht sie sichtbar.

 

 

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Gast Mithrennaith

In der Bildende Kunst hat der Magische Realismus aber doch bei den Europäern angefangen, wie z.B. De Chirico, Willink (ein deutsches Beispiel fehlt mir hier gerade, soll es aber auch schon geben)? Oder sehe ich dass falsch?

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In der Bildende Kunst hat der Magische Realismus aber doch bei den Europäern angefangen, wie z.B. De Chirico, Willink (ein deutsches Beispiel fehlt mir hier gerade, soll es aber auch schon geben)? Oder sehe ich dass falsch?

 

Wenn man Wiki folgt hast Du recht. Aber, ich denke, richtig bekannt wurde der Begriff mit den lateinamerikansichen Autoren und Künstlern, für die dieses Nebeneinander von Realität und Magie ganz alltäglich ist.

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Gast Mithrennaith

Ich habe aber den Begriff erst von Willink, De Chirico und solche Künstler kennengelernt (schon vor fünfundzwanzig Jahren oder mehr), und erst viel später von den südamerikanischen Autoren mitbekommen. De Chirico hat mit dieser Art von Kunst schon vor 1920 angefangen, Willink in den dreißiger Jahren, M.C. Escher vielleicht irgendwo dazwischen. Im späten dreißiger Jahren hat man dann den Begriff zur Literatur ausgedehnt, zuerst zu bereits frühere europäische Autoren. Die Lateinamerikaner sind dan doch etwas später gekommen.

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Gast Dunderklumpen

Der Begriff "Magischer Realismus" ist für die Bildende Kunst erfunden worden, da sind sich alle Angaben einig, und soll erstmalig 1925 verwendet worden sein (möglicherweise hat er ihn aber schon 1923 in einem kleineren Aufsatz gebracht), in diesem Buchtitel:

 

Roh, Franz: Nach-Expressionismus, Magischer Realismus: Probleme der neuesten europäischen Malerei. Klinkhardt & Biermann, Leipzig 1925.

 

Das Phänomen selber ist allerdings früher entstanden, da Franz Roh mit diesem Begriff bereits existierende Bilder charakterisieren wollte.

 

Hochinteressant finde ich dabei, dass die dem Magische Realismus zuzuordnenenden Bilder aus Überdruss gegen den Expressionismus entstanden seien, und zwar aus Überdruss gegen das Pathos und gegen den Verlust der Akzeptanz unserer realen Welt.

 

Der Magische Realismus - jetzt mal etwas salopp ausgedrückt - sucht das Metaphysische oder/und Spirtuelle in der Wirklichkeit unserer Welt, nicht in einer jenseitigen Welt - wobei auch das unterschwellig Boshafte oder Triebhafte dazu gehört.

 

Damit hat man dann eigentlich Kriterien, um den Magischen Realismus deutlich gegen die Phantastik und und gegen die sog. Fantasy abzugrenzen. Auch gegen den Surrealismus.

 

Und man kann dann auch, wie Mithrennaith es tut, bei Malern vor 1920 nach dem eben genannten Wirklichkeitsverständnis suchen.

Ich nehme mal De Chirico, den Mith erwähnt:

 

Er soll laut Wikipedia schon vor dem Surrealismus eine Richtung verfolgt haben, die als "Metaphyische Malerei" bezeichnet wird und genau die Kriterien besitzt, die für den Magischen Realismus zu gelten scheinen:

 

dass sich hinter dem sinnlich Erfahrbaren eine geheimnisvolle Wirklichkeit verberge. Diese Richtung soll von 1910 bis Mitte der Zwanziger Jahre verfolgt worden sein.

 

Ob dies aber mit dem Magischen Realismus zusammenfällt, müsste erst untersucht und diskutiert werden, meine ich.

 

Der Niederländer Carel Willink - auch von Mith erwähnt - beginnt in dem hier diskutierten Stil offenbar aber erst 1927 zu arbeiten.

 

Verlinkungen zu Bildern dieser Maler wage ich aber nicht zu bringen, weil ich noch keinen wirklichen Boden unter den Füßen habe, um klare Kriterien für Magischen Realismus in der Malerei für mich selber zu sehen.

 

 

Dichtung:

Die Anwendung des Magischen Realismus auf Dichtung soll aber schon 1926 - also zeitgleich mit Franz Roh - erfolgt worden sein, von dem Italiener Massimo Bontempelli.

 

Ich zitiere dazu aus Wikipedia:

 

Als „Mythograf“ („mitografo“) sollte der Künstler den „im alltäglichen Leben der Menschen und der Dinge entdeckten magischen Sinn“ aufzeigen, und zwar durch eine Vereinfachung der komplexen, problembehafteten Realität in der Massengesellschaft, d. h. durch ihre Übersetzung in neue Märchen und Mythen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Massimo_Bontempelli

 

Das klingt schon sehr nach Tolkien, zumindest, wenn man Tolkiens theoretisches Konzept damit meint.

Wie weit es Tolkien in der praktischen Umsetzung gelungen ist und auch Massimo gelungen ist, ist dann immer noch eine andere und extra zu untersuchende Sache.

 

Für Massimo zumindest sei "die Imagination" das Zentrale, um die reale Welt einem wieder heimisch zu machen, indem man ihr eine Komponente hinzufüge.

Das steht so ungefähr in einer Arbeit über Elisabeth Langgässer - 1890-1950 -, die man hier auszugsweise lesen kann und ein sehr erhellendes Kapitel über den Magischen Realismus hat:

http://books.google.de/books?id=VcRzW0f7PgwC&pg=PA126&lpg=PA126&dq=nach+expressionismus+magischer+realismus+probleme+der+neuesten+europ%C3%A4ischen+malerei&source=bl&ots=f2TSL4AVgX&sig=q0fG1LQD78J9khcg7N44PnAjKT0&hl=de&sa=X&ei=JDUnUY2lLsmytAb40YH4BQ&ved=0CEMQ6AEwAw#v=onepage&q=nach%20expressionismus%20magischer%20realismus%20probleme%20der%20neuesten%20europ%C3%A4ischen%20malerei&f=false

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Ich kenne den magischen Realismus lediglich als Phänomen in der lateinamerikanischen Kunst und insbesondere im lateinamerikanischen Film. Die dortigen Merkmale sind grundsätzlich, dass die Geschichte zwar in der "realen" Welt spielt, in dieser Welt jedoch phantastische Elemente auftreten, die nicht erklärt und auch nicht thematisiert werden.

 

Meinst Du mit "realer Welt" eine Welt, die in unserer außerliterarischen historisch verankert sein muss, oder eine Welt, die innerhalb der Geschichte real ist?

 

Wikipedia schreibt zum Magischen Realismus gerade bei der lateinamerikanischen Dichtung, dass dort die traditionellen Mythen mit der Wirklichkeitswahrnehmung verschmolzen sind.

Das müsste eigentlich heißen, dass ganz reale Dinge auch magische Wirkung haben.

Wenn Aragorn für Frodo nach Athelas sucht, die eine magisch zugefügte Wunde heilen kann, dann ist die Pflanze ganz real beschrieben - nicht wundersam wie in der Romantik z.B. -, sie wächst im Wald wie andere Pflanzen auch, aber sie hat eine magische Wirkung - sichtbar auch später in den Häusern der Heilung.

 

Surrealismus wäre für mich anders. Da bricht eine andere Realität über den Menschen ein - hier aber liegt das Magische verborgen in den realen Dingen.

 

Vorweg nochmals als Hinweis: Meine Informationen zum Thema stammen aus dem filmwissenschaftlichen Diskurs, zu den literaturwissenschaftlichen Aspekten kann ich nicht viel sagen. 

 

Mit "realer Welt" ist tatsächlich die reale, ausser-filmische Welt ausserhalb der Fiktion und Narration gemeint. Magisch Realistische Filme spielen nicht in einer "Fantasiewelt", sondern in unserer Welt und gliedern fantastische Objekte, Figuren oder Ereignisse darin ein. Es geht also um die Vereinung von Gegensätzlichem, dem "Realen" und "Fantastischen".

 

Dies scheint zentraler Bestandteil bereits des ursprünglichen Magischen Realismus: Auch Franz Roh, der den Begriff meines Wissens 1923 als Erstes verwendete, geht es bereits, darum dass der Künstler eine "uns geheime Bindung von Gegensätzen, die uns auseinander fielen" vertritt. (Zitiert nach Michael Scheffel: Magischer Realismus: Die Geschichte eines Begriffes und ein Versuch seiner Bestimmung. Tübingen, 1990, S. 12) In der Malerei bezieht sich Roh auf Künstler wie Otto Dix, Max Ernst, Alexander Kanoldt, Georg Grosz oder Georg Schrimpf. 

 

Für das heutige Verständnis des Begriffes scheint die lateinamerikanische Interpretation aber unerlässlich zu sein: "In einer zweiten Phase entwickelt sich der Begriff im lateinamerikanischen Kontext weiter und wird zu dem, was heute häufig als Inbegriff des magischen Realismus bezeichnet wird." (Serainar Rohrer: Magischer Realismus im Film. In: New Hollywood bis Dogma 95. Schüren: 2008, S. 230) Initialzündung war dabei der Schrifsteller Alejo Carpentier, der 1949 den Text "El reino de este mundo" verfasste und darin den Ausdruck "lo real maravilloso" prägte. Die zentrale These ist dabei, dass der Magische Realismus in der Kultur und Gesellschaft Lateinamerikas inhärent sei und deshalb dort am ausgeprägtesten praktiziert wird. Gründe dafür seien: 

  • das Mestizentum (bzw. die damit verbundene Vermischung von sehr unterschiedlichen Kulturen) 
  • das Denken in Bildern
  • das fehlende linieare Zeitverständnis
  • der Glaube an das Fantastische 

 

Das zentrale Element im magisch realistischen Film ist dabei, wie gesagt, dass magische Elemente in der Geschichte (die in der realen Welt angesiedelt ist) integriert werden, als ob sie real wären. Die Figuren im Film fragen also weder, woher diese Elemente kommen und wie sie mit physikalischen Gesetzen vereinbar sind; noch wird in der Narration versucht, das Magische zu begründen oder zu "verwissenschaftlichen". Das Reale und Fantastische verschmilzt. 

 

Ein Film wie "Der Exorzist" ist somit nicht dem Magischen Realismus zuzuordnen: Zwar treten auch hier fantastische Elemente in einer realen Welt auf (ein Mädchen ist vom Teufel besessen), stellen jedoch einen Einfluss von "Aussen" dar und sind nicht Teil der Alltagswelt der Figuren. Stattdessen werden sie von diesen problematisiert, indem diskutiert wird, woher diese fantastischen Elemente kommen und wie sie zu erklären sind. 

Magisch Realistische Filme in der westlichen Kultur wären dagegen zB "Being John Malkovich" von Spike Jonze oder "Angel-A" von Luc Besson. 

 

Gemeinsam mit dem Surrealismus ist die Ausgangslage: Der Gegensatz zwischen Realem und Fantastischen wird aufgehoben, letzteres wird in ersterem integriert. Insbesondere Künstler des spanischen Sprachraums wie Luis Bunuel bewegen sich oft an der Grenze zwischen Surrealismus und Magischem Realismus. 

Als Unterschiede listet Seraina Rohrer auf: 

  • die revolutionären (politischen) Ansätze des Surrealismus
  • die psychologische, ja psychoanalytische Dimension des Surrealismus
  • die Widersprüche zwischen den realen und fantastischen Elementen werden im Surrealismus stärker hervorgehoben

 

Nach der Definition von Magischem Realismus, wie ich sie verstehe, fällt Tolkien also nicht in diese Kategorie. Die Welt im "Herr der Ringe" ist zwar historisch an die unsere angelehnt, ist dieser aber auch im vornherein fremd, bzw. besteht von Grund auf aus fantastischen Elementen. Diese wirken nicht inkonsisent gegenüber den realistischen Elementen, sind in fiktiven Welt begründet: Frodo hat keinen Grund, sich übermässig über die Heilkraft von Athelas zu wundern, da es in seiner Welt "logisch" ist, dass Elben und Waldläufer solche Pflanzen mit magischer Wirkung kennen. Beim Magischen Realismus müsste sich Frodo darüber wundern, weil das magische Element den Grundsätzen "seiner" Welt widerspricht, tut es aber nicht. 

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Gast Dunderklumpen
Mit "realer Welt" ist tatsächlich die reale, ausser-filmische Welt ausserhalb der Fiktion und Narration gemeint.

 

Damit wir uns nicht missverstehen: wie kommt für Dich eine außer-filmische Welt in den Film?

Meinst Du das so, dass der außerfilmische Alltag abgefilmt wurde und mit magischen Elementen versetzt oder angereichert wurde?

 

 

Magisch Realistische Filme spielen nicht in einer "Fantasiewelt", sondern in unserer Welt

 

Aber was genau ist denn "unsere Welt"? Jeder realistische Roman spielt in einer Phantasiewelt, da sich der Autor den Roman ja mit seiner Phantasie ausgedacht hat. Es sind da eben nur Lokalitäten, die auch bei uns vorkommen könnten.

 

 

Es geht also um die Vereinung von Gegensätzlichem, dem "Realen" und "Fantastischen".

 

Ja. Aber ich denke, auch das Reale in diesen Filmen ist nur der Realität nachempfunden, da sie ja keine wirkliche Realität ist, sondern eine künstliche oder künstlerische.

 

 

Für das heutige Verständnis des Begriffes scheint die lateinamerikanische Interpretation aber unerlässlich zu sein: "In einer zweiten Phase entwickelt sich der Begriff im lateinamerikanischen Kontext weiter und wird zu dem, was heute häufig als Inbegriff des magischen Realismus bezeichnet wird." (Serainar Rohrer: Magischer Realismus im Film. In: New Hollywood bis Dogma 95. Schüren: 2008, S. 230)

 

Das ist eine interessante und wohl wichtige Information. Vielen Dank.

 

 

Die zentrale These ist dabei, dass der Magische Realismus in der Kultur und Gesellschaft Lateinamerikas inhärent sei und deshalb dort am ausgeprägtesten praktiziert wird.

 

Genau an dem Punkt hatte ich ja auch eine Überlegung gestartet: Wie soll der magische Realismus in einer Welt funktionieren, wo man an Mythen nicht mehr glaubt?

 

 

Gründe dafür seien: 

  • das Mestizentum (bzw. die damit verbundene Vermischung von sehr unterschiedlichen Kulturen) 
  • das Denken in Bildern
  • das fehlende linieare Zeitverständnis
  • der Glaube an das Fantastische 

 

Ja.

 

 

Nach der Definition von Magischem Realismus, wie ich sie verstehe, fällt Tolkien also nicht in diese Kategorie.

 

Tatsächlich sehe ich mich durch Deine Ausführungen eher noch darin bestätigt, dass Tolkien dazu gehört.

 

Denn in unserer Kultur selber wäre der Magische Realismus ja gar nicht möglich, da wir an magische Mythen nicht mehr glauben.

Tolkien aber hat eine Kunstwelt geschaffen, in der diese magischen Mythen wieder greifen. Das ist sein Kunstgriff.

 

Das wäre dann allerdings tatsächlich eine Weiterentwicklung, eine dritte Etappe eventuell.

 

 

 

Die Welt im "Herr der Ringe" ist zwar historisch an die unsere angelehnt, ist dieser aber auch im vornherein fremd, bzw. besteht von Grund auf aus fantastischen Elementen.

 

Das ist ein schwieriges Thema. Das Fantastische ist ja innerhalb des Buches kein Problem. Die Hobbits existieren, aus, bums.

 

 

Frodo hat keinen Grund, sich übermässig über die Heilkraft von Athelas zu wundern, da es in seiner Welt "logisch" ist, dass Elben und Waldläufer solche Pflanzen mit magischer Wirkung kennen.

 

Ja, eben. So wie es in lateinamerikanischen Mythen ganz selbstverständlich ist. Da ist das Mythische wie selbstverständlich integriert.

 

 

Beim Magischen Realismus müsste sich Frodo darüber wundern, weil das magische Element den Grundsätzen "seiner" Welt widerspricht, tut es aber nicht. 

 

Beim Magischen Realismus müsste er sich nicht wundern. Im Surrealismus müsste er sich wundern. In der Phantastik auch. Da bricht das Überreale ein und erschreckt die Leute. Im Magischen Realismus aber ist das Wunderbare Teil der Realität. Die Lateinamerikaner sehen das als Bestandteil ihrer Kultur, ihrer Alltagsrealität.

Jedenfalls habe ich das so verstanden, und so hast Du es ja auch selber ausgeführt. Oder?

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  • 2 Wochen später...
  • 3 Monate später...

Tolkiens Werke sind selbstverständlich nicht zur Gattung des Magischen Realismus zu zählen.

Das zentrale Motiv des magischen Realismus ist die Profanisierung des Magischen. Damit steht das Genre diametral der Romantik gegenüber, die das Alltägliche magisch zu überhöhen versucht.

Ein Vertreter des magischen Realismus wäre zum Beispiel Harry Potter, wo die Magie quasi zum Sport degradiert wird und so gut wie alle Akteure wie selbstverständlich mit ihr umgehen.

Im Herrn der Ringe sorgt der vermittelnde Blick der Hobbits dafür, daß wir über den Zauber der Eldar und der Ithryn noch staunen dürfen. Diesem narrativen Trick verdankt der Herr der Ringe übrigens seine ganze romantische Aura. Der Roman lebt von der poëtischen Fallhöhe zwischen kleinbürgerlichen Halblingen auf der einen und anmutigen Elben, verwegenen Helden und finsteren Dämonen auf der anderen Seite. Im Auenland bezweifelt man die Existenz von Drachen, Ents und mißtraut aller Magie (siehe Bilbos Abschied, Cow jump...). Aber es ist gerade diese provinziëlle Skepsis, durch die sich die Fähigkeiten der Elben und Zauberer vom Alltag abheben und uns Lesern als wunderbar erscheinen.


Ein Roman über die Eldalië unter sich, geschrieben von einem Idioten, ohne poëtisches Gespür, könnte ich mir aber durchaus im magischen Realismus vorstellen.

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