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Tolkien über sein Werk


Mortica

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Es wird ja zur Zeit im Forum mal mehr mal weniger heiß diskutiert, was Tolkien wie gemeint habe.

Vieles wird wohl auf Dauer im Dunkel bleiben, aber Tolkien war ja ein großer Briefeschreiber und auch so manches Interview gegeben (wenn ich nicht irre). Ich dachte mir, hier könnte man ja mal aus Tolkiens Briefen zítieren. Dabei sind natürlich die im Vorteil, die das Buch "J.R.R. Tolkien Briefe" besitzen. Aber auch im Netz findet man so manchen Aufsatz in dem aus Tolkiens Briefen zitiert wird.

Fangen wir also an. :-O

Wie und wo ordnet Tolkien Mittelerde ein?

Zum Einstieg in dieses Thema habe ich folgendes gefunden:

6. Fanden die Ereignisse in Der Herr der Ringe auf einem anderen Planeten statt?

Nein. Tolkiens Absicht war es, daß Mittelerde unsere eigene Welt sein sollte, allerdings formulierte er diese Idee etwas ungewöhnlich: Er sagte, er hätte Ereignisse beschrieben, die in einer imaginären Zeit eines realen Ortes stattgefunden hätten. Er erklärte das nur in den Briefen genau, aber es gibt auch Hinweise im Herrn der Ringe, obwohl sie außerhalb der Erzählung stehen.

Im Prolog (S. 18 [i-16]) lesen wir

Jene Tage, das Dritte Zeitalter von Mittelerde, sind nun lange vergangen, und die Gestalt der Länder hat sich verändert; doch die Gegenden, in denen damals Hobbits lebten, waren zweifellos dieselben, in denen sie sich immer noch aufhalten: der Nordwesten der Alten Welt, östlich des Meeres.

Der zweite Hinweis stammt auf dem Anhang D (S. 1123 [Anh.94]), der die Kalendersysteme von Mittelerde bespricht. Die Diskussion beginnt folgendermaßen:

Der Kalender im Auenland unterscheidet sich in verschiedenen Einzelheiten von dem unseren. Das Jahr war zweifellos genauso lang(*), denn wenn jene Zeiten auch, gerechnet nach Jahren und Menschenleben, lange her sind, so sind sie doch für das Gedächtnis der Erde nicht sehr fern.

(*) 365 Tage, 5 Stunden, 48 Minuten, 46 Sekunden.

Dieses Zitat ist für sich selbst klar genug, aber daß die Länge des Jahres in der Fußnote exakt gleich der Länge unseres eigenen Jahres ist, räumt wohl den letzten Zweifel aus.

Es folgen Zitate aus drei Briefen, in denen diese Frage weiter diskutiert wird:

"Mittelerde" ist übrigens nicht der Name für ein Nie-und-Nimmerland ohne Beziehung zu der Welt, in der wir leben (wie Eddisons Merkurien). Es ist einfach eine Verwendung von mittelenglisch middelerde (oder -erthe), verändert aus altenglisch Middangeard: der Name für die bewohnten Lande der Menschen "zwischen den Meeren". Und obwohl ich nicht versucht habe, die Gestalt der Gebirge und der Landmassen dem anzunähern, was Geologen über die nähere Vergangenheit sagen oder vermuten mögen, soll diese "Geschichte" doch der Einbildung nach in einer Periode der tatsächlichen Alten Welt dieses Planeten stattfinden

Briefe, S. 290 (#165), an Houghton Mifflin Co.

Ich bin historisch interessiert. Mittelerde ist keine imaginäre Welt... Schauplatz meiner Erzählung ist diese Erde, dieselbe, auf der nun wir leben, aber die historische Periode ist imaginär. Die Grundzüge dieses Aufenthaltsortes sind alle vorhanden (jedenfalls für die Einwohner von Nordwest-Europa), darum wirkt es naturgemäß vertraut, wenn auch ein wenig verklärt durch den Zauber der zeitlichen Ferne.

Briefe, S. 315 (#183),

über eine Rezension von Die Rückkehr der Königs

... ich hoffe, daß die augenscheinlich lange, aber unbestimmte zeitliche Lücke (*) zwischen dem Fall von Barad-dûr und unseren Tagen ausreicht, eine "literarische Glaubwürdigkeit" zu erreichen, sogar bei Lesern, die mit dem, was man über die "Prähistorie" weiß oder vermutet, vertraut sind.

Ich habe, so scheint mir, eine imaginäre Zeit konstruiert, bin aber, was den Raum betrifft, mit den Füßen auf Mutter Erde geblieben. Das ist mir lieber als die zeitgenössische Mode, ferne Welten im "All" aufzusuchen. So merkwürdig sie auch sein mögen, sie sind mir fremd und können nicht mit der Liebe eines Blutsverwandten geliebt werden. Mittelerde ist ... nicht meine eigene Erfindung. Es ist eine Modernisierung oder Abwandlung ... eines alten Wortes für die von Menschen bewohnte Welt, die oikoumenê: Mittel-, weil man es sich irgendwo zwischen dem Eis des Nordens und dem Feuer des Südens dachte. Viele Rezensenten scheinen anzunehmen, daß Mittelerde ein anderer Planet ist!

Briefe, S. 371 (#211), an Rhona Beare

Die Fußnote im ersten Satz der zuletzt zitierten Stelle bietet eine faszinierende Eröffnung:

Ich stelle mir eine Lücke von etwa 6000 Jahren vor: das heißt, wir sind jetzt am Ende des Fünften Zeitalters, wenn die Zeitalter ungefähr von gleicher Länge wären wie das Zweite und das Dritte. Ich denke aber, sie haben sich beschleunigt, und stelle mir vor, wir sind gegenwärtig am Ende des Sechsten Zeitalters oder im Siebten.

Briefe, S. 371 (#211), an Rhona Beare

Hinweis: In der Deutschen Ausgabe der Briefe steht statt "wie das Zweite und das Dritte" fälschlich "wie das Erste und das Zweite".

Eine abschließende Bemerkung sagt, daß nicht nur der Ort unsere eigene Welt ist, sondern auch die Menschen, die ihn bewohnen, sind wir selbst, in moralischer genauso wie in physischer Hinsicht:

... aber ich habe auch keines von den Völkern auf der "richtigen" Seite, den Hobbits, Rohirrim, den Menschen von Thal oder Gondor, irgend besser gemacht, als Menschen sind, waren oder sein können. Von mir ist nicht eine "imaginäre" Welt, sondern ein imaginärer historischer Moment in Mittelerde - unserer Wohnstätte.

Briefe, S. 321 (#183),

über eine Rezension von Die Rückkehr der Königs

Quellen:

Der Herr der Ringe, Prolog, S. 18 (I-16), Anhang D, S. 1123 (Anh.94); Briefe 287 (#165), 314 (#183), 363 (#211).

Autoren:

WDBL, CFH, Bill Taylor

Übersetzer:

Gernot Katzer

Quelle

Bearbeitet von Cadrach
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Sehr interessanter Text. Ich dachte immer, dass Tolkien Mittelerde gänzlich erfunden hatte. Aber wie es scheint ist es nicht so.

Aber man sieht wirklich gewisse Parallelen zur Weltgeschichte: Unsere Kontinete entstanden ja auch aus einem Urkoninent und die Mittelerdens ebenfalls (siehe "Frühling Ardas mit den zwei Türmen Oramal und Illuin -> alles ist noch Festland). Später trennen sie die Kontinente Mittelserde immer mehr und auch Teile versinken. Ich sehe es so: Numenor = versunkenes Atlantis; Mittelerde = Europa; Valinor = Amerika; Hinnen = Afrika; Binnenmeer = Schwarzes Meer.

Sonst noch mehr aus deinen Quellen:

7. Soll der Nordwesten von Mittelerde, wo die Handlung spielt, tatsächlich Europa sein?

Ja, aber mit Einschränkungen. Es gibt keinen Zweifel, daß Tolkien tatsächlich das nordwestliche Europa im Kopf hatte, als er Landschaft, Wetter und Flora von Mittelerde beschrieb. Das war teilweise so, weil Nordwesteuropa seine Heimat und ihm daher am besten bekannt war, und teilweise wegen seiner Liebe zu nordischen Überlieferungen. Wie er selbst sagte:

Dem Nordwesten Europas, wo ich (und die meisten meiner Vorfahren) gelebt habe, gehört meine Zuneigung, wie sie der Heimat eines Menschen gehören sollte. Ich liebe seine Atmosphäre, und über seine Geschichten und Sprachen weiß ich mehr als über die anderer Gegenden.

Briefe, S. 490 (#294)

An Charlotte und Denis Plimmer

Daher erscheint die Umgebung von Mittelerde Bewohnern dieses Teiles von Europa vertraut (siehe auch die Auszüge aus dem zweiten Brief in der Antwort auf Frage FAQ, Tolkien, 6).

Allerdings entsprechen die Geographien einander nicht genau. Der Grund dafür liegt weniger in einer bewußten Entscheidung Tolkiens, sondern ist eher ein Nebeneffekt in der Entstehungsgeschichte seiner Schöpfung: Die Idee, Mittelerde und Nordwesteuropa als weitgehend identisch anzusehen, kam ihm erst, als der Inhalt des Herrn der Ringe zu weit entwickelt war und die Landkarte ohne großzügiges Umschreiben der Geschichte nicht mehr stark verändert werden konnte:

Ich kann nur sagen, daß es, wenn dies "historisch" wäre, schwierig sein dürfte, die Länder und Ereignisse (oder "Kulturen") mit den uns bekannten archäologischen oder geologischen Befunden zu vereinbaren, die den näheren oder ferneren Teil dessen, was heute Europa heißt, betreffen; allerdings wird vom Auenland ausdrücklich gesagt, daß es in dieser Region gelegen habe (Der Herr der Ringe, Prolog, S. 18 [i-16]). Ich hätte alles auf eine größere Wahrscheinlichkeit hin zusammensetzen können, hätte sich die Geschichte nicht schon zu weit entwickelt gehabt, als sich die Frage überhaupt stellte. Ich bezweifle, ob damit viel gewonnen gewesen wäre...

Briefe, 371 (#211), an Rhona Beare

Was die Gestalt der Welt im Dritten Zeitalter betrifft, so wurde sie leider eher "dramatisch" als geologisch oder paläontologisch konzipiert. Ich wünsche mir manchmal, ich hätte eine Art Übereinstimmung zwischen den Vorstellungen oder Theorien der Geologen und meiner Karte ein bißchen möglicher gemacht. Aber dadurch hätte ich mir nur mehr Schwierigkeiten mit der menschlichen Geschichte gemacht.

Briefe, 295 (#169), an Hugh Brogan

Die Bemerkung, daß "nicht viel damit gewonnen wäre" ist charakteristisch und bezeichnend für Tolkiens Vorgangsweise, die sich auf der "lokalen Ebene" um Ähnlichkeit und Vertrautheit bemühte, aber die fehlende "globale" Identität eher ignorierte. Damit ist gemeint, daß zwar die einzelnen Szenen in verschiedenen, durchaus wiedererkennbaren Teilen Europas spielen, daß aber deren relativen Lagen und Entfernungen nicht mit der wirklichen Geographie Europas übereinstimmen. Tolkien erwähnt diese Schwierigkeit im Prolog des Herrn der Ringe: "Jene Tage, das Dritte Zeitalter von Mittelerde, sind nun lange vergangen, und die Gestalt der Länder hat sich verändert..." (S. 18 [i-16]). Daher bleibt es jedem Leser überlassen, wie wichtig ihm die geographische Übereinstimmung ist, und wo zwischen den beiden Aussagen Mittelerde ist Nordwesteuropa und Mittelerde hätte auch Nordwesteuropa sein können er seinen Standpunkt wählt. Tolkien hätte vielleicht gesagt Mittelerde ist in meiner Vorstellung Nordwesteuropa. Versuche, die Landkarte Mittelerdes in das Bild des Eurasiatischen Kontinents mit Gewalt einzufügen (wie in Tolkien - die illustrierte Enzyklopädie von David Day), sind jedenfalls mit Vorsicht zu genießen.

Ein Brief enthält weitere Hinweise über die Geographie Mittelerdes, aber er trägt wenig dazu bei, die obige Frage zu entscheiden, da ihm hier Nordwesteuropa nur als Vergleich, nicht aber zur Gleichsetzung diente:

Die Handlung der Geschichte spielt im Nordwesten von "Mittelerde", was in den Breitengraden etwa den Küstengebieten Europas und den Nordufern des Mittelmeers entspräche.... Wenn Hobbingen und Bruchtal (wie beabsichtigt) etwa auf der Breite von Oxford liegen, dann läge Minas Tirith, 600 Meinen südlich, etwa auf der Breite von Florenz. Die Mündung des Anduin und die alte Stadt Pelargir befinden sich etwa auf der Breite des alten Troja.

Briefe, 490 (#294)

An Charlotte und Denis Plimmer

Quellen:

Der Herr der Ringe, Prolog S. 18 (I-16);  Briefe, 371 (#211), 295 (#169), 490 (#294), 315 (#183).

Autoren:

WDBL, CFH

Übersetzer:

Gernot Katzer

Bearbeitet von Garondal
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