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Der Zwerg im Tann


Murazor

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Hallo allseits.

Ich habe eine neue Geschichte geschrieben. Sie ist schon fertig und wird nicht weiter fortgesetzt werden, zumindest ist das nicht geplant.

Ich wünsche euch allen viel Spaß beim Lesen. :-)

Der Zwerg im Tann

Es wurde Herbst. Die Laubwälder an den Hängen der Täler färbten sich in bunten Farben und nur das dunkle Grün der Nadelbäume blieb, während die kalte Luft langsam über die Gipfel zog und sich in den Bergtälern sammelte. Die Viehhirten trieben jetzt ihr Vieh von den Bergwiesen wieder hinunter zu den Winterweiden und Scheunen bei den Dörfern weiter unten. Es waren nicht viele Dörfer in diesem abgeschiedenen Teil der hohen Berge. Wollten die Bauern vom einen zum anderen Dorf kommen, mussten sie oft durch schwieriges Gelände steigen. Aus diesem Grund kamen auch nicht viele Besucher zu den Dörfern, was die Jüngeren traurig und die Älteren besser so fanden. Wo keine Besucher hinkamen, konnte sich auch nur wenig verändern und wo sich nur wenig verändern konnte, konnte nur wenig schlechter werden.

Mirhin fand, dass, wo sich nichts veränderte, das Leben nur schlecht war. Er war ein gerade zwölf Jahre alter Knabe im Baringdorf, einer an einem alten Bärenpfad errichteten Bauernsiedlung. Das Baringdorf lag in einer malerischen Umgebung. Auf einer kleinen unbewaldeten Hochebene gelegen, das sich an einer Seite an einen Berghang schmiegte, befanden sich die fünfzehn Häuser des Dorfes an dem einzigen Weg, der durch diese Gegend führte. Ging man vom Berghang über die Ebene, kam man an eine tief abfallende Klippe und blickte in einen Fluss, der ganz unten durch dieses Trogtal floss, während vor einem die gewaltigen, bewaldeten Hänge der gegenüberliegenden Berge aufragten, wenn sie nicht von einem dichten Wolkenschleier bedeckt waren. Das Wetter war nicht freundlich, oft war es windig und sehr oft regnete es, der Schnee kam früh. Mirhin war schon als kleines Kind gerne zu dieser Klippe gegangen und wurde immer wieder von seiner großen Schwester Lare zurückgeholt, bevor er vielleicht noch hinunterfiel. Die Dorfbewohner achteten genau darauf, dass keine kleinen Kinder zur Klippe kamen. Denn man sagte, die Klippe wäre das Tor zum Totenreich. Dort wurde sogar für die Seelen der Toten gebetet. Nicht selten in der Geschichte des Dorfes hatten Menschen ihr Leben beendet, indem sie einen Schritt über den Klippenrand hinausgegangen waren. Für Mirhin war die Klippe aufregend, aber nicht weil dort etwa der Tod auf ihn lauerte, sondern weil es für seine Gedanken ein Tor zu ganz anderen Dingen darstellte: Zu Dingen, wie sie in den Sagen vorkamen, die spät in der Nacht an den Lagerfeuern erzählt wurden. Wie die Bauern Sagen erzählten, beteten sie auch viele Götter an. Es gab Fruchtbarkeitsgötter und –Göttinnen, die dafür sorgten, dass im nächsten Jahr Kinder, Lämmer und Kälber geboren wurden- für die kleinen Kinder im Dorf waren diese Gottheiten zumindest der Grund dafür, dass Menschen und Tiere Nachwuchs bekamen. Es gab Ackergötter und Waldgottheiten. Es gab Götter für die Jahreszeiten, die guten und die schlechten. Es gab Götter, die man sich durch Gebete lieber vom Leib hielt- der Große Wolfsgott zum Beispiel. Mirhins Gott war aber Norno, der Herr und Beschützer der Wanderer, der Helden und Kämpfer. Es gab Augenblicke in Mirhins Leben, wo er sich weit weg von dem Dorf und der Enge hier und in die Welt der Helden und Sagen wünschte. Und dann richtete er diese Wünsche an Norno, was die anderen natürlich nicht wissen durften, nicht einmal Lare. Die Dorfgemeinschaft hatte einige Gründe diesem Gott nicht zugeneigt zu sein. Er war es, der junge Burschen zum Fortziehen reizte, bis sie dann in die Welt draußen gerieten, wo angeblich ein schlimmer Krieg tobte. Das hatten die Bauern vor zehn Jahren von einem zufällig vorbeikommenden Wanderer, einem Viehhändler, gehört und sie sahen keine Veranlassung zu glauben, dass sich an den Zuständen etwas geändert haben könnte. Die Dorfgemeinschaft war sich sicher, dass man das Fremde nicht suchen und vorsichtig sein sollte, wenn es zu einem kam. Es war diese Denkart, die Mirhin noch nie hatte verstehen können und die er zeitweise regelrecht zu hassen gelernt hatte. Das Gebiet, in dem er herumkam, wenn es im Dorf nicht wieder Arbeit für ihn gab, war für ihn jämmerlich klein und es kam ihm manchmal vor wie ein Verließ. Ein Verließ für seine Abenteuerlust und sein Fernweh. Aber Norno schien Mirhin gewogen zu sein, denn er konnte zwar nicht aus diesem Verließ entkommen, aber niemand konnte verhindern, dass etwas Außergewöhnliches, wie er es immer begehrte, in dieses Verließ eintrat. So geschah etwas, als der Herbst da war, was für ihn wie die Erfüllung seiner Wünsche aussah.

Fünf Zwerge erschienen auf einmal vor dem Dorf. Es waren wirklich Zwerge. Die Bauern wussten natürlich, dass es Zwerge gab- immerhin waren die Berge ja ihre Heimat- doch sie lebten unterirdisch und erschienen sehr selten und nur dort, wo man sie kaum sehen konnte. Die Menschen des Dorfes rannten sofort herbei, um die Zwerge zu sehen, und Mirhin beeilte sich, um sie als erster sehen zu können. Sie sahen nicht ganz so aus wie die Zwerge der Sagen, sie trugen weder Bärte, die bis zu ihren Fußknöcheln reichten, noch hatten sie Steinhaut, trugen keine Truhen mit funkelnden Juwelen, waren nicht mit Goldbehängen bedeckt, trugen auch nicht die berühmten Stahlrüstungen, die angeblich nur ihre Augen freiließen oder riesige Äxte. Diese fünf Zwerge hatten zwar lange Bärte, aber sie reichten nur bis zu ihrem Gürtel. Sie trugen dicke Kapuzenmäntel, Wamse, schwere Stiefel, dicke Ledergürtel, große Rucksäcke aus gewöhnlichem Garn und sie stützten sich auf gewöhnliche Wanderstäbe, nicht auf schwere Äxte. Insgesamt machten sie einen, gemessen an den Erwartungen, fast schon abgerissenen Eindruck. Aber die Gestalten, die da im Nebel auf der Wiese auftauchten, waren zweifellos Zwerge. Sie waren klein und stämmig. Man konnte sie für nichts anderes halten. Als die Kinder auf sie zulaufen wollten, wurden sie von den Eltern zurückgehalten. Man wollte die Zwerge nicht durch staunende und gaffende Kinder belästigen. Die Zwerge schienen sich nicht darum zu scheren, sie gingen gemächlich auf die Menschen zu. Dann trat der Zwerg, der am ältesten aussah- niemand wusste, wie alt er sein mochte, vielleicht hundertzwanzig, was bei einem Zwerg einem mittleren Alter entsprach?- vor und nahm höflich die Kapuze ab, als er vor dem Dorfältesten Barech stand.

„Wir haben schon eine lange Reise hinter uns, Herr Mensch.", sagte der Zwerg. „Ich heiße Morun und führe diese meine Gefährten an. Ich bitte Euch, gewährt uns Aufnahme für die Nacht. Wir reisen morgen weiter und werden Euch für jeden Aufwand gut entschädigen."

Zwerge waren nicht arm, hieß es in allen Sagen der Vorväter. Der Dorfälteste Barech, ein Mann mit grauem Bart und Mirhins Großonkel, der schon sechzig Jahre alt war und damit wohl nur halb so alt wie der Zwerg und jünger als der jüngste der fünf Zwerge, sah also keinen Grund sie abzuweisen, zumal die Vorratskammern trotz aller Armut im Herbst noch immer gut gefüllt waren und man Münzen aus Gold, wie sie die Zwerge immer mit sich führten, gut brauchen konnte. Umringt von einer Schar neugieriger Kinder wurden die Besucher ins Dorf geführt. Selbstverständlich hatten die Bauern kein Gästehaus, also mussten die Zwerge in einer alten Erdscheune mit Werkzeugsachen und Vorräten untergebracht. Als Ruhelager bekamen sie dicke Strohballen mit Wolltücherüberzug. In den Bauern, die sonst das Wesen der Kaufleute immer verachteten, erwachte dasselbe gerade. Es war um jeden Preis zu vermeiden, dass sich die werten Gäste unwohl fühlten und weniger Münzen als erhofft springen ließen. Eine Bäuerin bekam einzig und allein die Aufgabe sich um die Gäste zu kümmern. Als erstes scheuchte sie die Kinder von der Scheune weg, die enttäuscht weggingen. Mirhin blieb, obwohl er einige Arbeiten zu erledigen hatte, in der Nähe und schaute immer wieder auf die Scheune, die verschlossen war, als würde sich darin entweder ein wertvoller Schatz, die Erfüllung all seiner Sehnsüchte oder ein furchtbar schreckliches Ungeheuer oder beides zugleich verbergen. Aber nichts rührte sich. Die Tür blieb verschlossen und öffnete sich nicht. Die Wächterin blieb in der Nähe und die Leute drumherum gingen wieder ihren gewohnten Tätigkeiten nach. Mirhin aber sah immer wieder zur Scheune hin. Von dort war aber nichts zu sehen und nichts zu hören.

Die Nacht kam wie immer zu dieser Zeit sehr schnell, indem die Sonne, die den ganzen Tag von Wolken verdeckt gewesen war, endgültig hinter einem Gipfelkamm verschwand und das trübe Licht einer dichten Dunkelheit Platz machte. Nun erstarb langsam auch das Leben im Dorf. In der Mitte der Siedlung brannte wie immer ein Lagerfeuer, wo sich Mirhins Vater Oncul und sein Onkel Brurin nach getaner Arbeit unterhielten. Das Lagerfeuer war nach Sitte des Dorfes kein Platz für Kinder, sie hatten im Haus zu bleiben. Mirhin sollte eigentlich auch im Haus bleiben. Aber als dort schon alle eingeschlafen waren, stahl er sich aus der Tür heraus und in Richtung des Lagerfeuers. Die beiden Männer tranken ein wenig selbst gebrautes Bier und machten sich schon daran sich selbst ins Bett zu legen. Mirhin blieb in einigem Abstand zum Lagerfeuer hinter einem Stapel Holzscheite versteckt. Seine Hoffnungen wurden nicht enttäuscht. Als die Männer schon gehen wollten, ertönten schwere Schritte auf den Boden und bald darauf tauchten die Zwerge aus dem Dunkeln heraus. Ihr Anführer, der Morun genannt wurde, begrüßte die Erwachsenen mit brummender Stimme und fragte höflich, ob sie sich setzen könnten. Dagegen hatten Oncul und Brurin nichts einzuwenden und die Zwerge setzten sich um das Lagerfeuer. Sie waren recht unterschiedlich. Morun hatte einen langen und besonders struppigen Bart, er hatte auch selbst für einen Zwerg eine besonders robuste und kräftige Statur, als könnte er Bäume ausreißen. Zwerge mussten sehr kräftig und körperlich für einen Menschen unbesiegbar sein. Ein bestimmter Zwerg war das genaue Gegenteil von Morun, dachte Mirhin. Dieser Zwerg war für sein Volk eher schmächtig und schien noch jung zu sein. Ein anderer Zwerg hatte einen rötlichen Bart und schien danach, wie er mit dem vorherigen Zwerg redete, nicht schüchern, aber auch nicht einschüchternd zu sein. Der nächste Zwerg hatte seinen Rucksack mitgenommen und wärmte die Hände im knisternden Feuer und schien, während der fünfte zusah, etwas zu murmeln- vielleicht zwergische Feuerzauber? Und tatsächlich, das Feuer wuchs heran und die Wärme wurde so groß, dass sogar Mirhin in seinem Versteck etwas davon abbekam. Morun redete jetzt mit den Menschen.

„Wie sieht es inzwischen in der Welt da draußen aus?" und „Herrscht da draußen immer noch Krieg?" waren die Fragen, die er gestellt bekam.

Es waren nicht gerade die Fragen, die Morun gerne beantwortete, das erkannte Mirhin, dessen Neugierde immer größer wurde, in seinem Versteck recht bald. Aber der Zwerg bemühte sich seinen Gastgebern eine Antwort nicht schuldig zu bleiben. „Da draußen geht der Krieg noch immer weiter. Die Völker schlagen weiterhin aufeinander ein und die Fronten sind leider sehr unübersichtlich. Kaum ein Volk scheint allein auf einer Seite zu kämpfen, sogar die Zwergenvölker nicht, am schlimmsten ist es bei den Menschen. Aber vielleicht endet der Krieg bald. Der König der Menschen von Notron gewinnt immer mehr die Oberhand."

Und dann kam eine vorhersehbare, aber für Oncul und Brurin notwendige Frage: „Sind wir hier sicher?"

Morun konnte seine Gastgeber beruhigen. „Hier ist bisher noch kein feindlicher Krieger hergekommen und das wird auch bis zum Ende des Krieges nicht geschehen. Die Gegend ist zu abgeschieden und jeder Feldherr hätte hier Mühe seine Soldaten zu versorgen."

Die Menschen schienen erleichtert. Der fünfte Zwerg, der bisher recht unauffällig gewesen war, einer mit buschigem Bart und noch buschigeren Augenbrauen, die seine Augen fast ganz verdeckten, begann sich nun ebenfalls mit dem Feuer zu beschäftigen und Stauenswertes zu erschaffen, denn das erstaunte Raunen der Erwachsenen konnte Mirhin hören. Seine Neugierde wurde nun unbezwingbar und er streckte seinen Kopf weit aus der Deckung heraus, um das Geschehen zu sehen. Und tatsächlich, in den goldenen Flammen tanzten rote Gestalten einen sonderbaren Reigen und von irgendwoher war sogar das Klingen einer Schelle zu hören. Aber Mirhin war wie gebannt von diesem Flammenspiel und blieb zu lange außerhalb der Deckung. Der Flammenzauberer drehte den Kopf in seine Richtung und bevor Mirhin wieder hinter den Holzscheiten verschwinden konnte, zeigte er mit der Hand auf ihn. Das Flammenspiel verschwand.

„Wir werden belauscht. Ein Junge!", sagte der Zwerg.

Nun brachte es nichts mehr sich zu verstecken. Mirhin trat, um wenigstens nicht wie ein Feigling zu erscheinen, verschämt hinter den Holzscheiten hervor. Sein Vater brummte ungehalten über seinen Sohn, der sich immer wieder so verhielt, wie er es eigentlich nicht sollte, indem er Fragen zu fernen Ländern stellte und gerne durch die Wälder streifte, was man einfach nicht machen sollte. Und jetzt auch noch das. In Gegenwart seiner Gäste.

„Geh wieder ins Bett zurück, Bengel!", schnauzte er ihn an. „Und zwar sofort, sonst gibt es Schläge."

Mirhin drehte sich schon um, um zurückzugehen. Seiner ganze Gier nach Neuem, nach dem Aufregenden war wieder einmal ein Riegel vorgeschoben worden. Es war eine herbe Enttäuschung. Aber schon im nächsten Augenblick hörte er Moruns Stimme: „Lasst ihn doch kommen. Wenn er neugierig ist, soll er kommen und zuhören. Ich habe nichts dagegen."

Jetzt wäre es für die beiden Erwachsenen unhöflich gewesen, Mirhin wieder ins Bett zurückzuschicken. Mirhin musste mühevoll einen riesigen Freudenausbruch unterdrücken, als er sich doch wieder umdrehte, zum Lagerfeuer ging und neben seinem brummenden Vater Platz nahm. Die Zwerge schien seine Anwesendheit zu freuen, vielleicht weil jetzt einer in der Runde war, der annähernd noch so klein war wie sie selbst, denn Mirhin war für sein Alter nicht besonders groß. Der Flammenzauberer nahm seine Arbeit wieder auf und nun konnte Mirhin den Tanz von nahem ansehen. Es schienen Zwerge zu sein, Männlein und Weiblein, die da tanzten. Das Feuer schien mit dem Steigen und Fallen der Flammen den Rhythmus zu geben und das Knacken und Knistern ließ eine urtümliche Musik erklingen, wie sie den Menschen nicht bekannt war. Alles vermittelte den Eindruck von Freude und Gelassenheit. In der Mitte des Kreises der Tanzenden stand eine Gestalt- vielleicht ein König- der mit einem Stab den Takt auf den Boden schlug. Aber dann geschah etwas Merkwürdiges. Die Gestalt in der Mitte wurde größer und erhob sich, der Tanz verstummte, das Feuer wurde rötlich und die Tanzenden wurden zu Gestalten, die Knüppel und Schwerter zu einem tierischen Kriegstanz hoben. Das dauerte nur ganz kurz und dann hörte der ganze Zauber auf, die Gestalten verschwanden und das Feuer brannte wieder so klein wie vorher. Morun sah den Flammenzauberer wütend an.

„Bolun!", knurrte er und schob anscheinend einige Schimpfwörter in der zwergischen Sprache nach: „Arzh- mûsch arkún marûn!"

Bolun beugte verschämt den Kopf und sagte: „Entschuldigung, das passiert nicht wieder!"

Den neugierigen Gesichtsausdrücken der drei Menschen in der Runde kam Morun entgegen, indem er sagte: „Er ist, was das Verzaubern der Flammen angeht, ein blutiger Anfänger und hat mal wieder den Zauberspruch falsch aufgesagt."

Das verstanden die Menschen nicht ganz aber aus Höflichkeit sagten sie dazu lieber weiter nichts. Die Neugier richtete sich jetzt allerdings auf andere Dinge und Mirhin lauschte dem Gespräch fast zitternd vor Gier nach dem Wissen, das die Zwerge aus der Ferne mitgebracht hatten. Brurin fragte, woher die Zwerge denn kamen.

„Aus unserem unterirdischen Königreich Amrohoc ein Stück weit östlich.", sagte Morun. „Die Reise war beschwerlich, vor allem weil hier kaum jemand herkommt und es hier zwar keine echten Ungeheuer, dafür aber scharenweise Wölfe und Bären gibt. Dafür sind wir Zwerge aber robust. Wir klettern jeden Hang hinauf, egal wie hoch er ist und wie viel Gepäck wir tragen."

Der Zwerg mit dem rötlichen Bart räusperte sich: „Auf unserer Reise sind wir an einem einzigen Wirtshaus entlang gekommen. Und dort hat man uns mit Mistgabeln hinausgejagt. Die Menschen dort mochten uns nicht."

Der Flammenzauberer namens Bolun lachte. „Aber das haben sie gemacht, weil du eine Schlägerei angefangen hast, Budgin. Du wolltest mehr Bier trinken als sie in ihrem Vorrat hatten und als sie dir das Bier nicht geben konnten, hast du den Wirt verprügelt."

Budgin sah nun finster drein. „Aber das geht doch nicht, dass ein Wirtshaus kein Bier vorrätig hat. So etwas Erbärmliches habe ich auf meinen Reisen noch nie erlebt."

„Du wirst auch nicht besonders oft auf Reisen mitgenommen, weil du dich so aufführst.", bemerkte der Zwerg mit dem Rucksack.

„Genug, Granur!", schnauzte Morun den Zwerg mit dem Rucksack an. „Auf jeden Fall kamen wir so nicht dazu unsere Vorräte aufzufrischen und mussten uns im Wald von Wurzeln ernähren. Aber ein Zwerg erträgt das schon."

Mirhin musste ein Kichern unterdrücken. Die Vorstellung, wie diese fünf Zwerge von einer aufgebrachten Menschenmenge aus einem Wirtshaus herausgejagt wurden, hatte schon etwas Komisches an sich. Für eine kurze Zeit sagte niemand mehr etwas, bis Mirhin die Stille brach: „Wieso seid ihr hierhergekommen?"

Oncul drehte sich ungehalten zu seinem Sohn um, zögerte aber ihm vor den Zwergen eine Schelte zu geben. Diese zögerten ebenso mit der Antwort, aber bevor die Menschen den Eindruck bekommen konnten, die Frage wäre ihnen unangenehm, antwortete Morun: „Wir sind hier um einen alten Freund zu besuchen, der hier in der Gegend wohnt." Budgin nickte bedächtig zu Moruns Worten.

„Ein Zwerg?", fragte Mirhin voller Neugier und ließ seinen Vater missmutig brummen, dass sein Sohn die Gäste ausfragte.

Morun nickte. „Ja, ein Zwerg."

„Wir haben noch nie etwas von einem Zwerg hier gehört.", sagte Brurin.

„Es ist ein Einsiedler. Ein alter Freund, der die Einsamkeit gesucht hat und seitdem hier wohnt.", sagte Morun bedächtig. „Er ist ein Verwandter unseres Königs und verdient es daher, hin und wieder besucht zu werden. Menschen tun sich manchmal schwer die Wohnstätten unseres Volkes zu erkennen."

Sie schwiegen eine Weile, dann erinnerte sich Oncul an das Gebot der Gastfreundschaft und fragte, ob die Zwerge etwas essen wollten. Morun schien das Angebot nicht ungelegen zu kommen. „Das wäre nicht schlecht. Wir Zwerge haben einen großen Hunger."

„Wollt Ihr auch Bier haben?", fragte Oncul.

Morun winkte höflich ab. „Wir haben ein wenig von unserem eigenen Gerstensaft mitgenommen. Der schmeckt mehr. Er ist stärker, würziger, ohne dass ich euch beleidigen will, werte Gastgeber. Das Bier haben wir uns für besondere Anlässe aufgehoben. Die freundliche Aufnahme bei euch, werte Herren, ist das Bier wert, glaube ich. Granur hat das Bier im Rucksack."

„Dann brauchen wir nur noch etwas zu essen.", sagte Brurin. „Mirhin, hol du zwei Leibe Brot und Schinken aus dem Haus."

Mirhin gefiel es gar nicht, gerade jetzt fortgeschickt zu werden, aber er musste sich wohl oder übel fügen. Immerhin wurde er nicht auf Dauer von der Runde verbannt. Vielleicht würde er sogar etwas von dem berühmten Zwergenbier trinken dürfen. Die Jungs im Dorf durften nur dann nicht trinken, wenn das Bier knapp war und nur noch für die Erwachsenen reichte. Er stand auf und lief zum Haus seiner Familie, stahl sich hinein und nahm zwei Leib Brot und ein ordentliches Stück Schinken aus dem Vorratsbeutel. Dann lief er schnell zum Lagerfeuer zurück, von wo er dann lautes Geschimpfe der Zwerge hören konnte.

„Dinur, du Trottel!", knurrte Morun. „Jetzt ist der Saft weg!"

„Du Pechvogel wirst uns noch eine Horde Trolle an den Hals locken.", schimpfte Budgin.

Als Mirhin wieder zum Lagerfeuer zurückkam, dass der für sein Volk recht zierliche Zwerg, der offenbar Dinur hieß, anscheinend über Granurs Rucksack gestolpert war. Ein Fässchen, aus dem eine Flüssigkeit heraussickerte, lag vor ihm auf dem Boden. Das war das schöne Zwergenbier gewesen. Die Wut der anderen vier Zwerge war nur zu verständlich, während sich die Menschen zurückhielten, auch wenn sie sicher auch enttäuscht waren.

„Das darf nicht vorkommen.", sagte der Flammenzauberer Bolun, was eher mäßig klang, während Budgin in zwergischer Sprache die schlimmsten Schimpftiraden gegen Dinur losließ.

„Es tut mir leid.", stammelte Dinur.

„Jetzt haben nur du und Granur das Bier trinken können!", brummte Morun. „Es ist fast schon ein Frevel gegen die Götter, diesen wunderbaren Saft nach Wochen der Entbehrungen einfach im Boden versickern zu lassen."

„Soll ich das Bier etwa auflecken?", fragte Dinur in seiner Verwirrung.

„Trottel!", schimpfte Budgin. „Damit würdest du auch noch die Erde beleidigen. Ich frage mich, wieso wir dich überhaupt mitgenommen haben. Wir sollten dich von der Klippe runterwerfen!"

„Nana!", rief Morun. „Mäßige dich, Budgin. Dafür wird er die nächsten Tage die doppelte Menge an Gepäck tragen. Und nun lasst uns das verlorene Bier vergessen. Ich habe Hunger."

Mirhin reichte der Runde das Brot und den Schinken. Die Zwerge hatten einen Bärenhunger und jeder von ihnen bis auf Dinur, der noch völlig eingeschüchtert war und nur einige Bissen hinunterbekam, aß gut die dreifache Menge, die Oncul und Brurin verspeisten. Am Ende war der Hunger der Zwerge, die eifrig schmatzten und rülpsten- sich also aufführten wie die Zwerge der Märchen- noch immer nicht gesättigt und Mirhin musste noch einmal dieselbe Menge Brot und ein großes Stück Käse holen. Dann erst waren die Zwerge einigermaßen satt und lehnten sich bis auf Dinur gemütlich zurück.

„Ihr bewirtet uns vorzüglich.", sagte Morun. „Ich hatte schon gefürchtet, mich auf dieser ganzen Reise nur von Wurzeln ernähren zu können, aber wo Menschen leben, gibt es zumindest die Hoffnung auf eine gute Mahlzeit und hier wurde sie auch erfüllt. Leider werden wir schon morgen in der Früh wieder aufbrechen müssen. Dieser Zwerg wird nicht lange auf seinen Besuch warten wollen."

„Wo lebt er denn genau?", fragte Brurin neugierig.

Morun dachte nach. „Das wissen wir selbst nicht so genau. Als er von unserem Volk weggereist ist, hat er nur gesagt, dass er bei der großen steinernen Stele von König Darbon I. leben will, die hier angeblich irgendwo in der Nähe stehen soll. Wir wissen selber nicht, wo genau das ist."

Mirhin fiel etwas auf. „Wir haben so eine Stele aus Stein, die ein gutes Stück von den Weiden entfernt liegt. Es ist ein sehr altes Ding. Rundherum liegen Wälder."

Morun runzelte die Stirn. „Warst du dort?"

Mirhin musste vor Verlegenheit grinsen. „Ich habe mich einmal verlaufen und bin so dahin gekommen."

Oncul grinste ebenfalls. „Wir haben ihn damals einen ganzen Tag lang gesucht."

„Aber würdest du wieder den Weg dorthin finden, Junge?", fragte Morun.

Mirhin nickte. Der Zwerg lächelte. „Kann er unser Führer sein? Wir würden ihn großzügig belohnen, wenn wir uns eine lange Suche nach der Stele sparen."

Oncul dachte ein wenig nach. Es war die Erfahrung, dass sein Sohn merkwürdigerweise immer wieder in sonderbare Begebenheiten hineingeriet, die ihn ein wenig zur Vorsicht riet. Aber andererseits würde ihm in der Gegenwart von fünf anscheinend in allen Dingen erfahrenen Zwergen auch nichts zustoßen, zumal die auch vertrauenswürdig aussahen. Und was wäre er denn für ein Gastgeber, wenn er ihnen den Führer verweigerte? Immerhin hatten die fünf Gäste schon Nahrungsmittel verputzt, die für seine Familie drei Wochen lang reichen würde, also wäre die eine oder andere zusätzliche Münze nicht zu verachten. Er nickte und Mirhins Herzschlag vervierfachte sich vor Freude, dass er die Ehre haben würde die fünf Zwerge nun auch noch zu führen. Jahrelang hatte er auf so etwas gewartet und nun wurden seine Wünsche, einmal mit den Gestalten der Sagen zusammen zu sein, in Erfüllung gehen. Der Gott Norno hatte seine Wünsche in Erfüllung gehen lassen.

Oncul wandte sich an seinen Sohn. „Wenn du morgen unsere Gäste durch die Berge führen willst, musst du jetzt schlafen gehen. Also los, geh ins Bett!"

Mirhin wollte etwas entgegnen, merkte aber, dass es sinnlos war. Er würde morgen den ganzen Tag mit den Zwergen unterwegs sein, da konnte er auch auf die Nacht verzichten und schlafen. Die Zwerge lächelten alle darüber, dass der Junge, der schon größer als sie war, schon so früh ins Bett musste- nur Dinur lächelte nicht, wie Mirhin im Gehen noch bemerkte. Der Zwerg sah auf einmal kränklich aus. Vielleicht litt er so sehr unter seinem Pech, dass es ihn regelrecht krank machte.

In dieser Nacht schlief Mirhin nur sehr wenig und war dennoch am Morgen schon ganz früh hellwach und bereit jede Herausforderung anzunehmen, die sich ihm bot. Er stürmte schon aus dem Haus heraus, bevor irgendjemand außer den angeketteten Wachhunden, die das Vieh bewachten, wach war. Es war noch fast dunkel und Nebel hüllte das Dorf ein. Mirhin, der ständig an übersinnliche Dinge denken musste, glaubte darin ein letztes Aufbäumen der Mächte sehen zu müssen, die ihn um jeden Preis auf immer und ewig im Dorf festhalten wollten. Er streifte durchs Dorf, streichelte die Hunde, ging um die Gehege der Tiere herum und setzte sich schließlich auf einen Stein gegenüber der Scheune, in der die Zwerge schliefen. Es war noch ganz kalt. Der Winter nahte schon. Er holte sich ein zweites Hemd aus dem Haus und wartete.

Nach einer Weile schreckte er auf, als aus der Scheune die lauten Stimmen der Zwerge zu hören waren. Sie schienen unruhig zu sein. Mirhin wusste nicht, was los war. Aber er rührte sich nicht und wartete. Die Zwerge redeten noch eine ganze Weile weiter und hatten offensichtlich schlechte Laune. Vielleicht wegen des Biers? Vielleicht waren sie so wie die Erwachsenen, die sich erst nach einer ordentlich durchzechten Nacht wohlfühlten? Mirhin wusste sich keinen Reim daraus zu machen. Er stand auf, ging hin und her und wartete. Aber nichts rührte sich. Er ging um die Scheune herum. Kaum waren die Zwerge kurz verstummt, waren bald darauf wieder ihre Stimmen zu hören. Mittlerweile erwachten auch die anderen Dorfbewohner. Mirhins Tante Barna kam aus ihrem Haus heraus und wusch sich mit dem eiskalten Wasser, das in einem Topf an der Wand stand. Mirhin beachtete sie nicht, auch nicht, als sie ihn bemerkte und mit einem unterdrückten Schrei wieder ins Haus verschwand. Seine ganze Aufmerksamkeit galt den Zwergen, während um ihn herum das ganze Dorf erwachte. Lare kam gähnend aus dem Haus heraus, sah ihn kurz an und ging dann wieder. Ihn schien niemand besonders zu beachten und er beachtete sie nicht. Bis sich die Tür der Scheune öffnete und Granur herauskam.

Mirhin war sofort auf dem Sprung, aber Granur lächelte ihn nur matt an, um dann irgendwohin zu gehen, wahrscheinlich um seinen vollen Zwergendarm zu erleichtern. Inzwischen war das ganze Dorf wieder erwacht, als endlich Morun herauskam und auch zu dem neugierigen Mirhin hinüberging. Aber der Zwerg sah gar nicht fröhlich drein.

„Dinur ist krank geworden.", brummte er. „Hol doch euren Dorfältesten, damit ich mit ihm reden kann. Dinur wird wahrscheinlich bei euch bleiben müssen, während wir unseren kleinen Ausflug unternehmen."

Mirhin lief sofort los und holte Barech, der gerade erwacht war und schnell kam. Wenn einer seiner zahlenden Gäste krank geworden war, musste er sich darum kümmern. Mirhin hielt sich höflicherweise im Hintergrund, während Morun und Barech recht leise miteinander redeten. Schließlich schienen sie sich einig geworden zu sein. Morun holte einen Beutel aus seiner Manteltasche und reichte Barech eins, zwei, drei, vier, fünf blitzende Goldmünzen. Mirhin, der das sah, klappte dabei der Mund auf. Eine blanke Goldmünze mit dem Bild eines Zwergenkönigs oder eines ihrer königlichen Symbole war mehr, als ein einfacher Bauer in den Bergen jemals erarbeiten konnte. Somit war Barech und mit ihm das ganze Dorf auf einmal recht wohlhabend geworden. Also stimmten die ganzen Geschichten vom Reichtum der Zwerge, auch wenn Barech nicht mit Gold überschüttet worden war, wie es in einer Sage zu erwarten gewesen wäre. Der Dorfälteste würde eine der Frauen des Dorfes beauftragen sich um Dinur zu kümmern. Mirhin wunderte sich, was geschehen war. Aber Dinur hatte schon am Abend kränklich ausgesehen. Mirhin hatte vorher geglaubt, dass Zwerge nicht krank werden konnten, aber so erfuhr er immer mehr über dieses eigenartige Volk. Hoffentlich war es keine Zwergenkrankheit, die auch auf Menschen ansteckend war.

Dann machten sich Morun, Budgin, Bolun und Granur vor der Scheune zum Aufbruch bereit. Sie nahmen ihre schweren Rucksäcke, die wohl selbst ein starker Mensch kaum hätte tragen können, auf die breiten Schultern und lockerten sich für den kommenden Marsch auf. Mirhin ging zu seiner Mutter und bekam ein Stück Brot und Käse für die kleine Reise.

„Ist es besonders weit weg?", fragte Bolun.

„Wenn ihr euch nicht lange mit dem Zwerg dort unterhaltet, werden wir vor Einbruch der Dunkelheit zurück sein.", sagte Mirhin.

„Wohl kaum.", meinte Morun. „Das wird sicher länger dauern. Unter Zwergen dauern Höflichkeitsbesuche meist viel länger als unter Menschen."

„Nur aus Höflichkeit macht ihr eine so weite Reise?", staunte Mirhin dann.

Morun drehte sich um und Mirhin zuckte unwillkürlich zusammen, denn sein Blick war alles andere als freundlich. Dann verschwand dieser Blick aber und Morun lächelte sogar ein wenig. „Zwerge hängen aneinander, junger Mensch. Wir sind ein kleines Volk und viele andere Völker mögen uns nicht. Da ist es nur von den Göttern gewollt, dass wir enger als andere Völker zusammenhängen. Und dazu zählen auch Besuche bei anderen Zwergen, egal wie weit entfernt sie wohnen."

Budgin war offensichtlich verärgert. „Was ist, wenn sich Dinur nur krank stellt, damit er nicht die doppelte Last tragen muss? Er ist sowieso ein elender Feigling."

„Hab dich nicht so.", erwiderte Morun. „Er ist krank oder kann man sich so verstellen? Er muss irgendeine schlechte Wurzel gegessen haben oder einen bösen Pilz, als wir unsere Mahlzeiten aus den Wäldern geholt haben. Bei einigen von diesen Dingern dauert es länger, bis sie wirken."

„Er ist ein jämmerlicher Tollpatsch.", flüsterte Granur leise, Morun hörte ihn nicht, aber Mirhin schon, der diese Beschimpfungen überzogen fand. Aber er wollte gerne wissen, wie schlecht es Dinur wirklich ging.

„Darf ich ihn mir ansehen?", fragte er Morun.

„Meinetwegen.", sagte der. „Aber er sieht sehr schlecht aus und stinkt. Komm ihm nicht zu nah. Da drinnen muss sowieso noch sauber gemacht werden."

Mirhin ging in die Scheune hinein, wo sonst Vorräte aufbewahrt wurden. Strohballen waren an die Wände gepackt, wo die Zwerge geschlafen hatten. Auf einem Strohballen lag, wie es aussah, ein Wolltuchballen, das zitterte. Aber es war Dinur. Mirhin konnte sein Gesicht nicht sehen, denn so tief kauerte er sich in das Stroh. Er konnte ein Stück von seiner Wange sehen und die Haut war bleich. Gestank schlug Mirhin entgegen, wie der Geruch eines sterbenden Schafs. Auf dem Erdboden war ein gelblicher Fleck. Der Zwerg musste in der Nacht den Inhalt seines Magens entleert haben. Erschrocken lief Mirhin wieder aus dem Zelt heraus.

„Er ist schwer krank!", rief er.

„Ist er.", sagte Morun nur, während er den Inhalt seines Rucksacks überprüfte. „Dieses Unglück ist schwer, aber wenigstens wird es uns nicht am Erreichen unseres Zieles erreichen. Wir lassen der Frau, die sich um ihn kümmern wird, einige von unseren Heilkräutern zurück, die besser für Zwerge geeignet sind als die Aufgüsse und Tinkturen der Menschen."

Mirhin sah die vier Zwerge eine Weile untätig an und fragte sich verwundert, wie ihnen ein bloßer Besuch so wichtig sein konnte, dass sie dafür ihren Kameraden zurückließen. Aber da kam schon Mirhins Tante Barna. Sie würde sich um den kranken Zwerg kümmern müssen. Es würde ihr keine leichte Arbeit sein, das ahnte Mirhin schon, aber wenn sie von den Männern des Dorfes damit beauftragte wurde, dann würde sie es schon machen. Morun trat an sie heran, redete ein wenig mit ihr und überreichte ihr einen Beutel mit den Kräutern. Dann ging Barna in die Scheune und Morun drehte sich seinen drei wartenden Mitzwergen und dem jungen Führer, nämlich Mirhin, zu.

„Also los.", sagte er. „Es tut mir weh, Dinur hier zu lassen. Aber wenn wir hier blieben, könnten wir nicht mehr machen als diese gute Frau für ihn tun wird. Außerdem würden wir gerne vor dem Sonnenuntergang wieder zurück sein, wenn es möglich ist. Schließlich werden wir dann ja wieder bei ihm sein. Dann gehen wir mal los."

„Wir gehen dann ein Stück weit nach Norden, an unseren Sommerweiden vorbei.", sagte Mirhin und führte die Zwerge, die hinter ihm herstampften, frohen Mutes aus dem Dorf heraus. Ein paar Leute sahen ihnen nach, unter ihnen Lare und sein Vater. Aber die meisten Dorfbewohner waren schon bei ihren täglichen Arbeiten. Die Männer würden jetzt mehr denn je damit beschäftigt sein genug Brennholz für den Winter zu beschaffen. Und wieder einmal würden sie über die alten Äxte fluchen. Wenn sie mit den Münzen der Zwerge neue Äxte kaufen konnten, war ihnen das durchaus recht.

Mirhin und die Zwerge marschierten von der grasigen Hochebene mit dem Baringdorf hinunter, mit dem Tal mit dem bewaldeten Bergpanorama zu ihrer Rechten. Vor ihnen lag eine von ihrem Standpunkt anmutig aussehende Bergkette, Mirhin wusste aber schon, dass dort eine Reihe tiefer Schluchten und Senken lag, teilweise so abschüssig, dass man sie lieber nicht betrat. Der Stolz ließ sein Herz höher schlagen. Er führte diese Gruppe Zwerge sicher durch die Berge, er war ihr Führer, diese sagenhaften Gestalten vertrauten ihm. Und so ging er den Zwergen voran, die ihm stumm folgten. Die Vorboten des Winters hatten schon erste Spuren hinterlassen. Wolkenschleier stiegen aus den Tälern auf und wabberten die felsigen Hänge hinauf, wenn sie den Blick auf die obersten Hänge freigaben, wurde eine Schneedecke sichtbar, die in den nächsten Wochen bis zum Dorf hinunterwandern würde. Die Schneegeister würden kommen und das Bergland für Monate der Entbehrungen und schlimmstenfalls des Hungers besetzt halten. Die Gebete der Dorfbewohner an die Götter, dass die Schneegeister später kämen, würden wieder einmal unerfüllt bleiben.

Teilweise schien die Sonne auf diesem schönen Marsch und Mirhins Hochgefühl wollte nicht enden. Auch wenn er nicht sonderlich viel geschlafen hatte. Der Anblick der Berge war selbst für einen, der hier seit seiner Geburt lebte, gewaltig, wenn sich ein großes blaues Loch in der Wolkendecke öffnete, die Luft warm wurde und wie eine von den Göttern gewollte Ergänzung noch eine kühle Brise um die Wanderer strich, während die roten Blätter von Buchen umhergewirbelt wurden. Das Gras wurde langsam gelb und braun, darunter blieb frisches Grün. Sie überquerten einen Wildbach, der in einiger Entfernung eine Klippe hinunter stürzte und dort verschwand. Mirhin blickte diese Klippe kurz hinunter. Er tat das immer wieder. Diese Wassertropfen ließen sich einfach vom Schicksal umhertragen und warteten, was kam. Sie wussten nichts und hofften nichts. Dann ging Mirhin wieder zu den Zwergen hinüber, die sich schon wunderten, wieso er gewartet hatte. Sie kamen über die Wiesen, wo vor einiger Zeit noch die Schafe geweidet hatten, und dann kamen sie durch einen dunklen Wald. Hier drinnen fielen noch Wassertropfen vom letzten Regenschauer von den Tannennadeln auf die Reisenden hinunter, die aber nichts sagten und stumm weiter gingen. Die Spuren der Rinder, die vor einigen Tagen diese Strecke hinuntergetrieben worden waren, kennzeichneten ihren Weg. Irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf und ein Eichelhäher schrie. Mirhin ging weiter, weil die Zwerge weiter gingen. Wölfe waren nur für die Tiere gefährlich. Aber als eine Nebelkrähe knapp über ihren Köpfen dahinflog, umdrehte und sie noch einmal mit einem durchdringenden Krächzen umrundete, zuckte Mirhin zusammen.

„Verdammtes Viech!", brummte Budgin. „Was ist denn in die gefahren?"

„Wir haben uns schon mit Trollen herumschlagen müssen. Da wird dich doch keine Krähe beunruhigen, oder?", antwortete Morun. „Sie ist doch schon wieder weg. Also weiter."

Die Nebelkrähe war tatsächlich wieder verschwunden. Die Reise wurde trotzdem nicht fortgesetzt, denn als sich Morun umdrehte, vermisste er Bolun und Granur. Der Waldweg hinter ihnen war leer und nur ein Abschiedskrächzen der Nebelkrähe war zu hören.

„Wo sind die beiden denn?", fragte er sich. „Trödeln sie oder ist ihnen etwas zugestoßen?"

„Ich glaube nicht, dass es hier Trolle oder so etwas gibt.", meinte Budgin. „Vielleicht Waldgeister, das könnte sein."

„Da sind sie schon.", sagte Mirhin. Die beiden Zwerge kamen tatsächlich an einer anderen Stelle zwischen den Bäumen hervor.

„Wir haben kurz den falschen Weg genommen.", entschuldigte sich Granur.

„Muss man denn auf euch aufpassen wie auf Kinder?", brummte Morun. „Weiter."

Und bald kamen sie ans Ende des Waldes und erreichten die Sommerweiden der Bergbauern. Es war eine große unbewaldete Bergkuppe, wo die Bauern im Laufe des Sommers ihre Rinder, Schafen und Ziegen weiden ließen. Diese Fläche war schon immer unbewaldet gewesen, sagte man, und da Rodungsarbeiten sehr aufwendig waren, trieb man die Tiere jeden Sommer hier rauf, anstatt weiter unten Wälder abzuholzen und dann dort Weiden einzurichten. Die Bergkuppe, die sonst von freundlichem Grün eingedeckt war, war schon seit einiger Zeit von braunem und gelbem Gras überzogen worden, hinter dem der nahe Saum der dunklen Nadelwälder eine düstere Grenze bildete. Die blauen Löcher in der Wolkendecke schlossen sich langsam und obwohl es erst kurz nach Mittag war, konnte man den Eindruck gewinnen, dass der Abend schon nah war. Zwei Bussarde kreisten über der Bergkuppe und hielten Ausschau nach Feldmäusen. Eine Gruppe Gemsen graste auf den Wiesen. Als die Reisenden mit dem bei Zwergen unvermeidbaren Lärm näher kamen, sahen die Tiere in ihre Richtung und verschwanden im nächsten Moment hinter der Bergkuppe. Mirhin und die Zwerge, von denen zuerst Morun, dann Budgin und in einigem Abstand, den sie noch immer nicht aufgeholt hatten, Bolun und Granur kamen, gingen den Hang hinauf. Sie kamen dann an eine klare Quelle, die nur Mirhin zwischen dem inzwischen schon wieder hochgewachsenen Gras erkennen konnte. Unterhalb der Kuppe sprudelte ein dünner Wasserstrahl aus dem Fels heraus. Mirhin hielt sich aus Höflichkeit zurück, aber die Zwerge fingen schnell an zu trinken.

„Wasser.", brummte Budgin. „Na ja. Besser als gar nichts."

„Klar ist es. Das mag ich an den Bergen.", sagte Morun. „Wenn man ins Flachland kommt, wird das Wasser dreckig. Mirhin, wir machen eine kleine Pause."

Mirhin, der das Wandern gewohnt war, brauchte eigentlich keine Pause, aber er lehnte es auch nicht ab sich für eine Weile ins Gras zu setzen und ins Tal zu schauen. Nur verschlechterte sich das Wetter jetzt. Die dicken Herbstwolken schoben sich wieder zwischen den Gipfeln hindurch und irgendwann würden sie sich abregnen und in den höheren Gegenden würde es vielleicht schneien. Die Bussarde drehten noch immer Kreise über ihren Köpfen, steißen Schreie aus, dann verschwand die Sonne hinter den sich zusammenschiebenden Wolken und die Bussarde flogen in den weißen Dunst hinein. Die Zwerge tranken ein wenig und setzten sich dann auch ins Gras, um miteinander zu reden. Morun drehte sich zu Mirhin um.

„Wie weit ist es noch?", fragte er.

Mirhin zeigte auf die Bergkette vor ihnen. „Dort, hinter dem Bach, das eine etwas runde Tal, das an drei Seiten von diesem Höhenzug umgeben ist. Da drinnen ist die Stele. Ich erinnere mich. Wir werden in höchstens zwei Stunden da sein."

Die Zwerge sahen sich die Gegend an. Von dem Tal war nicht viel zu erkennen, denn eine Wolke hatte sich in den Talkessel hineingeschoben. Aber weit schien es nicht zu sein. Sie würden die meiste Zeit bergabwärts oder auf flachem Grund gehen. Morun dankte Mirhin und drehte sich wieder zu seinen Kameraden um, um leise mit ihnen zu reden. Mirhin mochte es nicht, wenn sie leise miteinander sprachen, aber die Zwerge waren nun mal grundsätzlich ein etwas eigenbrötlerisches Volk und man sollte ihnen nicht nachtragen, dass sie Geheimnisse hatten. So jedenfalls sagten es die Sagen und Mirhin hatte keinen Grund aufdringlich zu werden. Denn wenn es wirklich stimmte, was in den Sagen erzählt wurde, dann konnten die Zwerge aufdringlichen Menschen gegenüber sehr böse werden. Mirhin setzte sich also wieder ins Gras und sah einem Schmetterling zu, der mit seiner Farbenpracht nicht so recht in die herannahende Dunkelheit zu passen schien. Etwas merkwürdig war das Verhalten der Zwerge schon, vor allem weil sie hin und wieder lauter wurden. Das nützte Mirhin aber nichts, denn sie waren dazu übergegangen, die zwergische Sprache zu verwenden. Das dauerte eine ganze Weile -und Mirhin erkannte, dass dabei gestritten wurde- dann wandte sich Morun wieder an den Führer.

„Führ uns noch ins Tal.", sagte er. „Besser wir werden geführt, als dass wir uns verirren. Wir haben schlechte Erfahrungen damit gemacht, ohne Führer auf Wanderschaft in fremdem Gebiet zu gehen."

„Ihr habt überlegt, mich heimzuschicken?", sagte Mirhin empört. Gleich darauf bereute er, frei gesprochen zu haben, die Worte hatte er einfach herausgeplappert. Aber sie schienen der Wahrheit recht nahe gekommen zu sein, denn Morun sah ihn grimmig an.

„Wir haben über eine alte Geschichte gesprochen, Junge.", antwortete Morun. „Unser schönes Gastgeschenk für den alten Zwerg im Tann dort ist auf der Reise verloren gegangen. Budgin trug daran die Schuld. Wir überlegen uns, wie wir das dem Zwerg dort erklären können, denn er wird sicher ein wenig verärgert sein."

Granur brummte ungehalten hinter Moruns Rücken, aber der Anführer der Zwerge schenkte ihm keine Beachtung. Mirhins Neugierde war leider noch zu groß, als dass er hätte schweigen können. „Ist der alte Zwerg dort so schrecklich?"

„Gastgeschenke sind eine alte Sitte, die man bewahren muss unter Zwergen.", brummte Morun und seine Stimme war nun bedenklich lauter als vorher. „Du bist ein guter Führer, aber wenn du vorsichtig bist, solange es um den besten Weg geht, solltest du auch vorsichtig sein, sobald es um deine Worte geht, denn du führst deine Worte ohne ihnen Zügel anzulegen."

Jetzt merkte Mirhin, dass er in Zukunft besser den Mund halten sollte, wenn er nicht zurückgeschickt werden wollte. Und das wollte er nicht. Er nickte und wartete darauf, dass die Zwerge wieder aufbrachen. Die schulterten ihre Rucksäcke und gingen los. Ein leichter Nieselregen ging auf sie nieder, aber Zwerge und Menschen aus den Bergen ließen sich von so etwas nicht abschrecken. Sie gingen jetzt auf den Rand der Weiden zu. Dann betraten sie den Wald. Es war ein düsterer Tann. Von den Nadeln der Fichten und Tannen tropften dicke Wassertropfen, die lautlos auf dem aufgeweichten Waldboden aufschlugen, dessen nasser Duft den Reisenden entgegenschlug, kaum dass sie den Wald betreten hatten. Hier und da wuchsen Gruppen von Pilzen. Sie überquerten den Bach, der durch die Regenfälle sehr angeschwollen war. Die Zwerge waren durchaus nicht wasserscheu, hatten aber einige Mühe hinüberzukommen ohne auszurutschen und schließlich waren sie alle bis zu ihren Gürteln nass geworden. Sie waren schweigsam. Offensichtlich mochten sie diese Gegend nicht.

„Und hier wohnt ein Zwerg.", murmelte Budgin ein wenig zu laut.

Mirhin hatte sich nur einmal hierhin verirrt, war sich aber trotzdem sicher den richtigen Weg zu nehmen. Diese Wälder wurden vom Bergvolk nur hin und wieder zur Jagd auf Hirsche betreten, waren den Hirten im Grunde aber fast vollkommen fremd. Hier herrschten andere Götter, sagten die Alten. Man sollte sich deswegen in Acht nehmen, wo man seinen Fuß hinsetzte. Die Sagen erzählten von heimtückischen Wölfen, die aus dem Dunkel des Tanns auftauchten und Wanderer vom rechten Weg abbrachten, um sie zu verspeisen. Mirhin war noch nie ein solcher Wolf begegnet und er scheute sich nicht diese Wälder zu betreten. Hier gab es hin und wieder einen Bär, aber keine gefährlichen Ungeheuer und das einzige Tier, was er bei dieser Wanderung bisher im Wald gesehen hatte, war ein Fuchs gewesen, der nur für einen Augenblick zu sehen gewesen war. Aber vielleicht war es gerade die Möglichkeit, auf Ungeheuer zu treffen, die für ihn die Wälder so anziehend machten.

Solche Gedanken hatte Mirhin, als er zusammen mit den Zwergen am Rand einer tiefen Senke entlangging und vor ihnen eine Stelle lag, wo einmal ein mächtiger Baumriese gestanden und nun eingestürzt war. Es war kein Nadelbaum, sondern eine riesige Buche gewesen, an die er sich von seinem letzten Aufenthalt her noch erinnerte. Die Buche war ein gewaltiger Baum gewesen. Anscheinend hatte sie irgendein starker Sturm umgeweht. Irgendwo dort musste ihr großer Stamm liegen, aber er war von einem Dickicht junger und mittlerer Fichten verdeckt. Mirhin fragte sich, wie überhaupt eine Buche in den Tann gekommen sein mochte.

Ein kleines Krächzen störte ihn kaum in seiner Gedankenversunkenheit. Als dann das Flattern sehr vieler Flügel zu hören war und das Gestrüpp rauschte, riss er die Augen auf. So schnell er konnte, ließ er sich fallen und hielt die Hände vor sein Gesicht, denn wie ein Sturm aus schwarzen Federn, Krallen und scharfen Schnäbeln rauschten über hundert Krähen aus dem Gebüsch. So etwas hatte er noch nie erlebt, er hatte die Krähen aber rechtzeitig gesehen. Die Zwerge traf der Anflug unvorbereitet. Die Krähen flogen tief und so nah an die Zwerge heran, dass sie es nur böse meinen konnten. Auch wenn die Zwerge sicher schon hartgesottene Kerle waren, zuckten sie zusammen. Das Krächzen der Krähen füllte wie eine böse Vorhersagung die nasse Waldluft und die Flügelschläge hörten sich an wie das Getrommel eines schrecklichen Opferfestes. Außer Morun wurden alle vier Zwerge von dem Anflug umgeworfen.

„Bei den Göttern!", brüllte Granur. „Was wollen die Vögel?"

„Bolun ist abgestürzt.", rief Budgin, der sich flach auf den Boden gelegt hatte. Aus der Senke neben ihnen hörten Mirhin und die Zwerge Bolun wütend brummen. Er war hineingefallen. Da hörten sie die Krähen das letzte Mal krächzen und die Vögel verschwanden wie ein Sturmwind, dessen Zeit vorüber war, aus der Dunkelheit des Tanns.

Bolun war tatsächlich wegen der Krähen ins Schlittern gekommen und in die Senke gerollt. Dort lag er im Wasser des angeschwollenen Baches, der diese Senke geschaffen hatte. Aber er rappelte sich wieder auf. Den Rucksack hatte er noch immer auf dem Rücken. Er sah aus wie ein nasser Bär mit seinem tropfenden Bart.

„Verdammte Krähen. Wegen denen bin ich reingefallen.", brummte er und ging schon wieder aus der Senke heraus.

„Merkwürdig. Auf einmal werden wir von Krähen angegriffen.", meinte Morun.

„Wir sind mit Trollen fertig geworden.", merkte Budgin an.

Bolun kletterte mühsam den felsigen, von Wurzeln überwachsenen Hang hoch. Aber er kam auf dem nassen Fels wieder ins Rutschen. Er brüllte vor Wut, während er schlitterte, erfolglos nach Halt suchte und dann mit seinem Fuß an einer Wurzel hängen blieb. Dabei wurde er vom Gewicht seines Rucksacks nach hinten gerissen, seine Arme hingen hinten weg, der Rucksack entglitt ihm. Bolun, dessen Fuß an der Wurzel hing, wurde mit der ganzen Kraft seines eigenen Gewichts an den felsigen Grund geschlagen, während sein Rucksack polternd im Gebüsch der Senke verschwand.

„Bei den Göttern. Lacht nicht so.", brummte Bolun, als seine Kameraden anfingen zu lachen.

„Ich hole den Rucksack.", sagte Mirhin eifrig und sprang in die Senke hinunter zu der Stelle, wo der Rucksack liegen musste, während Bolun über sein Missgeschick schimpfte.

Der Rucksack lag im Gestrüpp junger Tannen. Die spitzen Nadeln taten weh, als sie Mirhin zur Seite schieben musste, um an den Rucksack zu kommen. Der Verschluss hatte sich im Fallen geöffnet und Teile des Inhalts lagen auf dem Waldboden. Mirhin staunte, wie viel Gewicht ein Zwerg tragen konnte. Er war größer als die Zwerge, konnte aber trotzdem höchstens die Hälfte dieses Gewichts tragen. Zum Gepäck, das auf dem Boden lag, gehörten ein Kletterseil, eine Glasflasche wahrscheinlich mit einer zwergischen Arznei und einige Werkzeuge. Mirhin wunderte sich, dass die Zwerge die handwerklichen Arbeiten mit Steinen und Metallen so sehr liebten, dass sie sogar auf ihre Reisen die dazu nötigen Werkzeuge mitnahmen. Da waren eine Meißel, ein Hammer, eine Eisenklammer und verschiedene Schnüre. Zwerge waren wirklich ein sehr merkwürdiges Volk. Mirhin steckte die einzelnen Teile wieder in den Rucksack.

„Das soll nie wieder passieren. Sonst breche ich mir noch irgendwann das Genick.", schimpfte Bolun. „Junge, wo bist du?"

„Hier.", rief Mirhin und bald darauf tauchte Bolun zwischen den niedrigen Tannen auf und langte nach dem Rucksack. „Danke, Junge.", sagte er und nahm den Rucksack.

„Bitte.", sagte Mirhin, klopfte sich die Nadeln von der Kleidung. Dabei sah er, dass noch ein Stück am Boden lag. Ein Stück, das aussah wie ganz aus Stahl gemacht, lag in einer Erdspalte. Mirhin holte das Stück heraus. Es war dreckverschmiert, aber er erkannte sofort, dass es eine Waffe eindeutig zwergischer Art war. Der rechteckige Stiel war genauso aus kaltem Stahl wie die schmale Axtklinge, aber es war keine typische zwergische Streitaxt, die Klinge war schmal, oben hatte es einen Dorn, unten einen Stachel, dazu einen an der Seite gegenüber der Axtklinge. Das stählerne Stück lag schwer in der Hand.

„Hier ist noch etwas.", sagte er etwas leiser als beabsichtigt.

Bolun drehte sich um und der ein wenig sorglose Ausdruck auf seinem Gesicht war weg, als ihm Mirhin die Waffe hinhielt. Er stand Mirhin, dem die schwere Waffe in der Hand schon schwer wurde, einige Augenblicke gegenüber und Mirhin merkte, dass in Boluns Augen jetzt die Angespanntheit wie die eines Kriegers vor der Schlacht lag. Bolun bewegte seine Hand langsam vor und schien Mirhin sorgfältig zu mustern.

„Was ist los, ihr beiden?", rief Budgin. „Ich will weiter, bevor die verdammten Krähen zurückkommen."

Bolun schnaubte und riss dem überraschten Mirhin die Waffe regelrecht aus der Hand. Er rief: „Du kannst doch warten, oder, Budgin?" und verstaute das Ding wieder in seinem Rucksack, um dann vorsichtig aus der Senke herauszuklettern. Diesmal rutschte er nicht aus, dafür kam Mirhin beim Klettern ins Schlittern, hielt sich aber an einer Wurzel fest und kam sicher oben an. Die Zwerge warteten schon auf ihn.

„Wie weit ist es noch, Mirhin?", fragte Morun.

„Nicht mehr weit, in vielleicht einer Stunde sind wir bei der Stele.", sagte Mirhin.

Morun nickte und ging schweigend hinter ihm her, fiel dann aber zurück und als sich Mirhin, der über Boluns merkwürdiges Verhalten nachdachte, einmal umdrehte, war der Anführer der Zwerge nicht mehr hinter ihm. Nur noch Granur, der ein zwergisches Wanderlied pfiff, und Budgin waren hinter ihm. Morun und Bolun waren wohl zurückgefallen. Die merkwürdigen Dinge nahmen kein Ende. Alle schwiegen. Die schweren Stiefel der Zwerge lösten, wenn sie auf den nassen Waldboden aufstrampften, Geräusche wie von gequetschtem Brei aus. Die Lautlosigkeit war sonderbar und als ein Eichelhäher vor ihnen ihren Weg kreuzte und sein „Räätsch" rief, war Mirhin dankbar für die Ablenkung. Unwillkürlich schien er langsamer gelaufen zu sein, denn auf einmal ging er neben Budgin.

„Wie geht's, Junge?", sagte Budgin und klopfte Mirhin aufmunternd auf die Schulter.

Mirhin wusste nicht, was er darauf antworten sollte, also schwieg er und ging weiter.

„Bolun führt sich manchmal merkwürdig auf.", sagte Budgin und Mirhin drehte sich jetzt um. „Ich muss mich für ihn entschuldigen. Manche von uns mögen Menschen nicht besonders. Das hat mit Dingen zu tun, die du von hier aus kaum verstehen kannst."

Mirhin dachte nach. Seine Neugierde begann sich in der Nähe dieses geselligen Zwergs wieder zu regen. „Das hat etwas mit dem Krieg zu tun, oder?"

Budgin brummte. „Schon. Diese Gegend bekommt die Unruhen kaum zu spüren, weil sie zu weit abgelegen ist, aber der Krieg ist überall. Die Zwerge stehen da mitendrinnen, weil sie sich unmöglich raushalten können. Wir versuchen nur das Beste für uns herauszuholen. Das ist alte zwergische Sitte. Leider müssen wir an vielen Orten gegen Menschen kämpfen, deswegen sind wir misstrauisch geworden."

„Am Lagerfeuer habt ihr von einem Reich von Notron gesprochen.", sagte Mirhin.

Budgin musste grinsen. „Du bist ein Lausebengel. Du hast uns belauscht. Ich erinnere mich. Wir Zwerge mögen es gar nicht, wenn jemand bei unseren Gesprächen zuhört. Das macht uns misstrauisch. Aber ich will es dir erzählen. Unser Königreich Amrohoc muss darauf achten, dass wir Zwerge zumindest ein paar Verbündete haben. Deswegen verbünden wir uns hin und wieder mit den einen oder anderen Menschen. Denn wir Zwerge sind zwar wehrhaft, aber ein zu kleines Volk, um uns in diesem Krieg allein zu behaupten. Unter den Menschen gibt es viele Machthaber, Könige und Reiche. Notron ist so ein Reich. Es wird immer mächtiger und beherrscht schon einen Großteil der umkämpften Gebiete."

„Und wie steht ihr dazu?", fragte Mirhin neugierig.

„Wir sind mit Notron verbündet.", antwortete Budgin.

Mirhin war ein wenig verwirrt. Über solche Dinge hatte er noch nie nachgedacht. „Ist das jetzt gut- oder schlecht?"

Budgin konnte ein leises Lachen nicht unterdrücken. „Armer kleiner Junge. Diese beiden Wörter gibt es so nicht. Es zählt nur, ob ein Bündnis für die Zwerge von Vorteil oder von Nachteil ist. Es ist immer schlecht, sich mit jemandem zu verbünden, der einen nicht beschützen kann, und ebenso schlecht ist es, wenn man einen Verbündeten hat, der so stark ist, dass er ungemütlich wird. Manchmal sind diese Dinge selbst für die Ältesten unklar."

„Und was bedeutet das?", wollte Mirhin fragen, aber Budgin wies nach vorne.

„Wir sind da.", sagte er.

Sie verließen den Nadelwald. Vor ihnen breitete sich eine grüne, von niedrigem Gras bewachsene Lichtung aus. Diese Lichtung war an jeder Seite von dunklem Wald umgeben. Das Gelände stieg an jeder Stelle außer an der, wo sie hergekommen waren, ziemlich an. In der Mitte der grünen Wiese stand eine mindestens zwanzig Ellen hohe Steinstele. Sie war schon sehr verwittert, sodass die wunderbare Arbeit der zwergischen Steinmetze von vor langer Zeit gar nicht mehr gewürdigt werden konnte. In dem rauen Stein waren die Spuren großer Runen zu erkennen, überhaupt schien die Stele, als sie geschaffen worden war, ein Meisterwerk der Kunst gewesen zu sein. Oben rechts war ein ganzer Brocken herausgesprungen, der im Gras lag. Neben der leeren Stelle stand noch die Figur eines zwergischen Kriegers, die, obwohl verwittert, den Wanderern mit durchdringendem Gesichtsausdruck entgegensah. Zu jeder Seite hin hatte im oberen Teil ein solcher Krieger gestanden, jetzt waren nur noch zwei übrig. Trotzdem machte die verwitterte Stele auf Mirhin großen Eindruck. Sie musste an einen großen Sieg oder eine andere große Heldentat der Zwerge erinnern und die Zwerge hatten sie hier vor langer Zeit aufgestellt, noch bevor das Baringdorf gebaut wurde. Als Mirhin das erste Mal hierher gekommen war, hatte er eine ganze Weile staunend vor der Stele gestanden. Und noch immer staunte er. Von der verwitterten Stele ging eine Ausstrahlung aus, die ihn nachdenklich werden ließ. Nur war sie leider den ungünstigen Witterungen ausgesetzt und das leider schon seit sehr vielen Jahren. Die Spitze der Stele war schon von einem Wolkenschleier umhüllt. Die Wolken waren in das ovale Tal hineingekommen und füllten es aus. Die Luft war feucht und frisch.

Inzwischen waren alle vier Zwerge auf der Lichtung angekommen. Mirhin hörte, wie sie sich Sachverstand über die Stele unterhielten.

„Siebenhundertdreiundzwanzig Jahre ist das Ding alt.", erzählte Morun, der seinen Rucksack unterhalb der Stele ablegte und um sie herumging. „Die Runen sind jetzt leider alle unleserlich geworden, für die Menschen ist diese Stele nur ein großer merkwürdiger Fels, fürchte ich, während sie für uns Zwerge noch immer an den großen König Darbon I. erinnert."

„Der Schutzzauber scheint noch gut zu wirken.", meinte Granur. „Der Wald ist nicht herangekommen. Die Lichtung ist noch ganz hübsch."

„Der Zwerg, der das Gras gesät hat, kannte seine Zaubersprüche.", sagte Morun. „Die Steinmetze anscheinend aber nicht. Das Ding ist ja ganz verwittert. Der Schutzzauber wurde entweder nie ausgesprochen oder er ist vergangen. Es ist wirklich schade. Seht euch dieses fehlende Stück an. Da ist Wasser ins Gestein reingeflossen, im Winter gefroren und dabei hat es dieses Stück langsam weggesprengt. Da hätte eigentlich auch kein Wasser reinfließen dürfen. Unter unseren Vorfahren waren auch Stümper."

„Da oben sitzt ein Vogel.", bemerkte Mirhin.

Es war eine Nebelkrähe, die oben auf der Spitze der Stelle saß und auf die Zwerge hinuntersah. Sie hüpfte von einem Bein zum anderen, stieß sich ab, krächzte, flog um die Stele herum, kam immer tiefer, krächzte, als wollte sie die Zwerge und Mirhin ärgern, dann flatterte sie wieder höher und verschwand im Nebel.

„Dummer Vogel.", knurrte Budgin. „Was haben die ganzen Raben und Krähen nur gegen uns?"

Morun schien das nicht zu kümmern. „Ich weiß nicht. Ich esse jetzt lieber, als mich um Vögel zu kümmern."

Die Zwerge setzten sich auf ihre Rucksäcke, um zu essen und sich auch ein wenig miteinander zu unterhalten. Sie taten das leise und Mirhin war klug genug geworden, nicht hinzuhören und sich einzumischen. Er setzte sich auch nicht hin, denn er hatte keinen Rucksack dabei und das Gras war nass, deswegen aß er seine Brotzeit im Stehen und ging ein wenig um die Stele herum. Irgendwas an diesem Ort war sonderbar. Was es die Macht des verbliebenen Schutzzaubers, den die Zwerge der Stele gegeben hatten? Er wunderte sich über einiges. Jetzt wunderte er sich auch, dass hier ein Zwerg leben sollte. Ein Verwandter des Zwergenkönigs auch noch, der es vorzog hier allein in der Wildnis zu leben anstatt in einem märchenhaften Palast, wie es in den Sagen hieß? Er musste irgendwo weiter oben wahrscheinlich in einer Höhle wohnen. Er hatte, als er sich hierhin verirrt hatte, einige Höhlen gefunden. Ein Zwerg konnte ja unauffällig bleiben. Mirhin aß hungrig das Brot, das er dabei hatte. Er hatte an diesem Tag schon viel erlebt, aber er war sich sicher, dass es noch nicht zu Ende war.

Die Zwerge waren mit ihrem Essen schnell fertig und unterhielten sich noch eine Weile, teilweise sah es so aus, als würden sie auch miteinander streiten. Aber sie achteten darauf, dass Mirhin nichts mitanhörte. Der umrundete mehrfach die Stele, als würde er an diesem Steinstück etwas suchen. Mehrfach merkte er, wie einer der Zwerge um die Ecke nach ihm sah, um sicher zu gehen, dass er sie nicht belauschte. Die Wolken waren noch tiefer gekommen und der Nebel hatte schon fast die ganze Lichtung gefüllt, als die Zwerge mit ihrem Gespräch fertig waren und aufstanden. Bolun und Granur nahmen schon ihre Rucksäcke auf, Morun und Budgin unterhielten sich noch und diesmal schnappte Mirhin zufällig Satzfetzen auf.

„Also in Zukunft Vorsicht, Budgin.", sagte Morun.

„Wird nicht wieder vorkommen. Verzeihung.", sagte Budgin.

„Wir müssen vorsichtig sein.", schloss Morun ab und ging dann zu Mirhin rüber.

Morun lächelte, als er Mirhin ansprach. Aber Mirhin war wachsam. Der Ausdruck in Moruns Augen war fast derselbe wie der Ausdruck, den er in Boluns Augen gesehen hatte, als er ihm die Waffe überreichte. „Du hast uns gute Dienste geleistet, Junge.", sagte er. „Aber jetzt trennen sich unsere Wege. Hier, nimm die." Er nahm einen Beutel aus seiner Manteltasche und holte drei blanke Goldmünzen raus, die er dann in Mirhins Hand legte. „Dein Lohn dafür, dass du uns hierhin geführt hast."

Mirhin sagte nur: „Danke." Dabei war der Lohn für den Sohn gewöhnlicher Bauern sagenhaft.

„Und noch etwas, Junge.", sagte Morun. „Du solltest jetzt in dein Dorf zurückgehen. Wir werden uns nicht mehr wiedersehen." Er fügte hinzu. „Es ist besser, wenn wir uns nicht wiedersehen."

Mirhin wollte nach dem Grund fragen, überlegte sich aber, dass das Morun stören würde. Also fragte er: „Ich soll jetzt sofort gehen?"

Morun sah ihn mit einer Schärfe in den Augen an, die Mirhin ein wenig einschüchternd fand, aber er sagte nichts und wartete auf eine Antwort. „Ja, geh. Wir werden uns nicht wiedersehen.", antwortete Morun. „Geh jetzt sofort. Richte Grüße an die Leute in deinem Dorf aus. Wir werden einen anderen Rückweg nehmen."

Mirhin trennte sich aus irgendeinem Grund nur ungern von den Zwergen, wahrscheinlich war es das Gefühl, bei ihnen in einer ganz anderen, besseren Welt zu sein weit weg vom Dorfalltag. Aber jetzt war leider, auch wenn er es gerne leugnen mochte, die Zeit zu gehen. Er setzte ein Lächeln auf und deutete höflicherweise eine Verbeugung an, dann drehte er sich um und ging wieder in die Richtung, aus der er gekommen war. Bei jedem Schritt hatte er die Gewissheit, dass ihn Morun von hinten beobachtete. Aus dem Verhalten der Zwerge konnte er sich keinen Reim machen, wusste aber, dass es mehr als dumm wäre die Zwerge zu verärgern. Seine Neugier würde unbefriedigt bleiben. Er würde wieder in sein Dorf zurückkehren und nie wieder einem Zwerg begegnen. Dabei hatte er merkwürdigerweise das Gefühl, dass es noch nicht vorbei sein konnte. Als er die Dunkelheit des Tanns betreten hatte, drehte er sich noch einmal um und beobachtete die Zwerge, die ihn nicht mehr sehen konnten. Sie besprachen sich noch einmal und wollten wohl beginnen den Zwerg, der hier lebte, zu suchen. Etwas fiel Mirhin auf: Sie trugen ihre Waffen jetzt bei sich. Er erkannte deutlich Boluns Waffe, die er ihm selbst gegeben hatte. Wozu sie Waffen brauchten, konnte sich Mirhin nicht vorstellen. Bei der Vorstellung, dass die vier Zwerge einen Grund hatten, in dieser Gegend Waffen zu tragen, lief ihm ein Schauer den Rücken hinunter.

Dann ging er weg.

Die Masse der Wolken im Tal begann sich mit einem Mal abzuregnen und um Mirhin herum fielen die Regentropfen so dicht, dass er nicht mehr weit sehen konnte. Sofort war er durchnässt. Bis dahin hatte er beim Gehen trübe Gedanken gehabt, aber jetzt blieb er aus irgendeinem Grund stehen und drehte sich um. Dabei dachte er nichts, er hatte nur ein Gefühl, dass ihm sagte, dass er auf keinen Fall gehen durfte. Woher dieses Gefühl kam, wusste er selber nicht, aber es war anders als der Trieb der bloßen Neugier, der ihn bisher bei den Zwergen gehalten hatte. Das jetzt war etwas anderes. Er zuckte zusammen, als ein Krächzen durch den Regen drang. Es war die Nebelkrähe, die trotz des Regens so leicht und behände zwischen den Bäumen hindurchflog, als wäre sie die Herrin dieser Naturgewalt. Wieder einmal umrundete sie Mirhin und flog dann in die Richtung, aus der er gekommen war. Mirhin überlegte nicht lange. Er nahm das als ein Zeichen und kehrte um.

Die Stele war nur noch als ein grauer Schatten im Nebel sichtbar, als Mirhin zu ihr zurückkehrte. Auf der Lichtung hatten sich in kurzer Zeit viele Pfützen gebildet und er hatte Mühe bis zur Stele zu kommen. Die Zwerge waren nicht mehr da. Es war nicht anders zu erwarten gewesen. Er sah sich um. Die schweren Stiefel hatten im aufgeweichten Erdboden deutliche Schlammspuren hinterlassen, die offensichtlich in den Tann führten. Mirhin wusste selbst nicht, was er eigentlich wollte, ob er den Zwergen unbedingt folgen wollte, aber als er die Nebelkrähe wieder oben auf der Stele entdeckte, hoffte er, dass sie ihm helfen könnte. Und sie half ihm. Sie stieß sich von der Stele ab und flog nach links auf den Tann zu. Mirhin folgte ihr, kämpfte sich zwischen den Pfützen hindurch und tauchte in den dunklen Tann ein. Ohne weiter nachzudenken, ging er den Hang hinauf. Der Tann war eigentümlich still bis auf das sanfte Tropfen des Regenwassers, das vorher eigentlich stürmisch und zornig geklungen hatte. Es war ein ungleichmäßig steiler Hang, der überall von Tannen bewachsen, von Felsen bestückt und jetzt an vielen Stellen von wilden Sturzbächen überströmt war. Mirhin musste an vielen Stellen die Felsen hinaufklettern und die Nässe auf dem Gestein machte das Vorankommen gefährlich. Aber er war ein Kind der Berge und war schon viele nasse Felsen hinaufgestiegen. Irgendeinen Vorteil musste es ja haben in dieser kalten, einsamen Gegend aufzuwachsen. Er spürte, dass ihn der dunkle Tann aufgenommen hatte und dass hier anscheinend eigene Regeln galten. Er kämpfte sich weiter. Nach einer Weile blickte er sich um. Die Zwerge waren bisher nicht wieder aufgetaucht, aber sie konnten jederzeit wieder zwischen den Bäumen erscheinen. Ob er sie überhaupt wiedersehen wollte, wusste er nicht. Er ahnte nämlich, dass er dann wahrscheinlich sicher Bekanntschaft mit ihren Klingen machen würde. Zwerge konnten den Sagen nach gefährliche Kämpfer sein. Er musste darüber nachdenken, wieso er eigentlich diesen Hang hinaufstieg. Aber kurz darauf tauchte wieder die Nebelkrähe auf, schreckte ihn mit ihrem Krächzen aus seinen Gedanken auf und trieb ihn zum Weitergehen an. Mehrfach rutschte er aus, konnte sich durch einen schnellen Griff nach einer Wurzel, einem Ast oder einer Felskante aber noch vor dem Absturz retten. Er hatte den festen Willen bis nach oben zu kommen. Die Näbekrähe huschte immer wieder vor ihm zwischen den Bäumen umher und trieb ihn an. Mirhins Unterbewusstsein war sich sicher, dass es um etwas sehr Wichtiges ging, während sein Verstand nur noch gehorchte. Der Regen hatte nachgelassen, es regnete nur noch leicht. Die Luft war klar und fast ohne ablenkende Gerüche. Er konnte jetzt wieder besser sehen. Um ihn herum waren überall große Felsen. Die Bäume hatten sich gelichtet. Die Nebelkrähe flog jetzt ganz hoch und verschwand zwischen den Wolken. Er ging weiter und merkte dann, dass er kurz vor dem Höhenzug war, der sich in einem Dreiviertelkreis um die Lichtung mit der Stele erstreckte, die er sogar durch eine Lücke im Tann sehen konnte. Ein Gefühl gab ihm zu verstehen, dass jetzt etwas geschehen würde. Er ging vorsichtig hinter eine große Tanne und sah sich die Gegend an.

Er zuckte zusammen, als er in einiger Entfernung von ihm einen Zwerg sah. Es war aber keiner der ihm bekannten Zwerge. Er schien sehr viel älter zu sein, hatte einen weißen Bart, braungraue, alte Kleidung an und hielt einen Stab in der Hand. Mirhin fragte sich, wie alt er sein mochte, denn wenn er sehr alt war und ein Zwerg, dann musste er älter sein, als es sich irgendein Mensch vorstellen konnte. Es war der Zwerg, den Morun, Budgin, Bolun und Granur einen Besuch abstatten wollten. Er stand vor dem Eingang seiner Höhle auf einem Felsvorsprung und schien auf etwas zu warten. Er hatte von dort oben einen guten Ausblick und konnte jeden, der sich ihm durch den Tann näherte, schon von weitem erkennen. Er wirkte wachsam. Mirhin fragte sich, ob er ihn schon gesehen hatte. Wenn ja, dann wurde die ganze Sache noch merkwürdiger. Die Näbelkrähe tauchte wieder auf und zu Mirhins Verblüffung setzte sie sich in der Nähe des alten Zwergs auf den Fels. Dann war von unten ein Knacken zu hören, Mirhin zuckte zusammen und ging in Deckung, als weiter unten Morun, Budgin, Bolun und Granur auftauchten.

Die vier Zwerge waren durchnässt und teilweise auch verdreckt. Ihre Waffen hatten sie noch immer in der Hand. Als sie aber den Alten sahen, konnte Mirhin sehen, wie Morun seine Axt in die Halterung steckte und einen fröhlichen Willkommensruf ausstieß. Die vier Zwerge kamen dem Alten näher.

„Fürst Onrun, endlich finden wir Euch.", rief Morun erfreut. „Wir hatten schon befürchtet, dass Euch etwas zugestoßen sein könnte, deswegen sind wir bewaffnet. Unsere Reise war lang und wir haben Euch nur mit Hilfe der Menschen hier finden können."

Der Zwerg namens Onrun sah die Besucher an und nahm seine Hand zum stummen Winken hoch. „Ich erkenne dich, Morun Morissohn.", rief er mit einer sonderbar festen Stimme. „Als ich dich zuletzt gesehen habe, warst du noch viel jünger. Heute siehst aus, als hätte dich das Schicksal mit einer Last beschwert. Sag, was willst du?"

Morun verneigte sich. „Euer Neffe will Eure Rückkehr nach Amrohoc. Eure Weisheit wird von unserem Volk gebraucht. Notron hält sich kaum mehr an den Vertrag. Unserem Volk steht wohl ein Krieg bevor."

Onrun schien zu nicken. „Also ist das, wovor ich gewarnt habe, eingetreten. Ich damals vor Notron gewarnt. Aber niemand wollte auf mich hören."

„Jetzt wird Euer Rat wieder gebraucht.", rief Morun. „Kommt mit uns nach Amrohoc zurück. Die Gefahren für unser Reich und unser Königshaus sind groß. Der Feind ist stark. Wir haben sogar Angst, dass er die Dorfbewohner hier bestochen haben könnte, um uns auszukundschaften."

Während Morun und Onrun miteinander redeten, beobachtete Mirhin die Zwerge vorsichtig von seinem Versteck aus. Morun ging weiter auf Onrun zu und Budgin blieb ein wenig zurück. Bolun blieb bei Budgin und hörte zusammen mit ihm zu, was ihr Anführer und der Alte zu bereden hatten, während Granur bei Morun blieb. Aus irgendeinem Grund sah Onrun die Besucher jetzt mit einem sehr traurigen an.

„Ich habe damals vor einem Bündnis mit Notron gewarnt.", sagte er. „Niemand hat auf mich gehört. Der Herr von Notron war damals einschmeicheln und er hat Amrohoc alles versprochen, was unser Volk wollte: Gute Bezahlung für unsere Dienste, sichere Wege. Ich allein habe die List hinter diesen Worten gehört. Morun, du wirst diesen Auftrag meines Neffen nicht erfüllen. Es ist zu spät. Notron hat längst Mittel, alles zu hören und zu sehen. Selbst vor den Herzen der Zwerge hat dieses Reich nicht halt gemacht."

Die Nebelkrähe neben Onrun stieß ein lautes Krächzen aus. Mirhin sah zu den Zwergen und erstarrte, als er sah, wie Granur und Bolun ihre Waffen, die nur locker in den Halterungen gehangen hatten, nahmen und zum Schlag ausholten. Granur griff Morun an, der ihm am nächsten stand, und Bolun griff Budgin an, der ihm am nächsten stand. Dann floss Blut. Bolun stieß einen Kampfschrei aus. Er war schnell und der unvorbereitete Budgin hatte keine Zeit sich zu wehren. Bolun rammte ihm den Stachel seiner Waffe in den Bauch. Gleichzeitig schlug Granur auf Morun zu. Das Krächzen der Nebelkrähe hatte Morun gewarnt, aber nicht früh genug, um dem auf seinen Kopf zielenden Schlag ganz auszuweichen. Die Axt traf ihn an der Schulter. Er stöhnte auf. Sein Blut spritzte dem Verräter ins Gesicht. Granur stieß einen Siegesschrei aus. Unten sackte Budgin zusammen, er versuchte nach seiner Axt zu greifen, während das Blut aus seiner Magengrube herauskam und ihm über die Hose floss. Bolun schlug mit der Axtklinge seiner Waffe zu. Einmal- zweimal, dann gab er Budgins Leichnam, von dessen zerschlagenem Schädel und Rücken Blut auf den Waldboden floss, einen festen Tritt und der Körper, an dem noch immer der Rucksack hing, rollte den Hang hinunter. Bolun wandte sich um und knurrte, als er sah, dass oben die Überraschung nicht ganz gelungen war. Der alte Kämpfer Morun hatte trotz seiner schweren Verletzung noch genug Kraft, die Axt in die Linke zu nehmen und Granur, der noch wegen der Verletzung seines Gegners grinste, einen Schlag in die Seite zu geben, dass er röchelnd und Blut spuckend einknickte. Morun holte ächzend ein zweites Mal aus und schlug Granur den Schädel entzwei. Der tote Verräter fiel um, rollte ein Stück weit den Hang hinunter und dabei an Bolun vorbei, der seinen schweren Rucksack ablegte. Granurs Leichnam schlug gegen einen Felsen und blieb in grotesker Haltung liegen, während Bolun auf den blutenden Morun zuging. In seinem Versteck atmete Mirhin rasch. Er war erstarrt und klammerte sich an den Tannenbaum. Er flehte die Götter an, dass sie Morun noch genug Kraft gaben, auch diesen Gegner zu besiegen. Der Kampf war kurz und grausam. Bolun griff mit der Axtklinge seiner Waffe an. Morun, der schon bleich geworden war, wehrte den Schlag stöhend mit seiner Axt ab, seine Klinge traf dabei Boluns linken Arm, an dem sich eine blutende Wunde öffnete. Bolun versetzte Morun mit seinem rechten Ellenbogen einen Schlag ins Gesicht, dass der sich krümmte und Bolun seinem Gegner den Dorn mit einem Siegesruf in die Brust stach. Ein letzter Hieb mit der Klinge auf Moruns Nacken beendete auch diesen Kampf. Bolun sah auf seinen toten Gegner herum, Geifer klebte an seinem Mund und Mihrin sah anstatt seines Gesichts nur eine vom Hass verzerrte Fratze. Bolun schien es zu ärgern, dass der tote Morun noch immer kniete, und gab dem Leichnam ebenfalls einen Tritt. Der schwere Morun blieb leblos auf dem Boden liegen. Knurrend wie ein toller Hund drehte sich Bolun nun zum Onrun um.

Der alte Zwerg hatte den Kampf von oben ohne ein Wort zu sahen beobachtet. Auch als Bolun auf ihn zukam, ließ er sich nicht aus seiner Ruhe bringen. Die Nebelkrähe erhob sich von ihrem Felsen und flog aufgeregt um die beiden Zwerge herum. Bolun hielt seinen linken Arm, der ordentlich blutete.

„Der Trottel hätte besser meinen rechten Arm treffen sollen.", knurrte Bolun. „Dann würde es länger dauern dich zu töten und ich könnte es mehr genießen."

„Tust du das für Gold?", fragte Onrun seelenruhig.

„Mir ist kein Gold versprochen worden, aber selbst wenn ich keines bekomme, werde ich dich töten.", antwortete Bolun mit Hass in der Stimme. „Es ist an der Zeit, dass sich in Amrohoc etwas ändert. Das lächerliche Königshaus, zu dem auch du gehörst, muss weg. Eine andere Sippe, die weiß, zu wem man Freund, zu wem man Feind sein soll, muss an die Macht."

„Dann schlag zu.", sagte Onrun leise.

Mirhin hörte diese Worte und ahnte, dass es noch nicht vorbei war, als Bolun mit Kraft seitlich ausholte und dem alten Zwerg die Kehle durchschlug. Onrun war tot. Mirhin konnte von seinem Versteck aus sehen, wie Bolun über dem Leichnam stand und schwer atmete. Es sah so aus, als würde in ihm kein echtes Siegesgefühl aufkommen. Er schien zu überlegen, ob er Onruns Höhle durchsuchen wollte. Die Gelassenheit, mit der Onrun sich hatte töten lassen, hatte ihn offensichtlich verunsichert. Der Verräter musste glauben, dass es neben dieser Nebelkrähe noch etwas anderes in der Nähe gab, das ihn nicht mochte. Er sah sich um und ein böser Zufall wollte es, dass er genau dann in Mirhins Richtung starrte, als der seinen Kopf hinter der Tanne herausgestreckt hatte.

„Du!", rief er mit rauer und Hasserfüllter Stimme. „Du!", wiederholte er. „Ich wusste doch, dass mit dir etwas nicht stimmt. Komm her, Bengel!"

Mirhin erkannte, dass er in Lebensgefahr schwebte. Bolun würde keine Skrupel haben ihn wie die drei Zwerge, die jetzt tot am Hang lagen, zu erschlagen. Er rannte aus seinem Versteck den Hang hinauf. „Bleib stehen!", brüllte Bolun und rannte ihm hinterher. Mirhin hastete über den Gipfelgrat auf die andere Seite des Berges und wusste, dass ihm ein mordlüsterner Zwerg, dessen verletzter Arm sich keinesfalls auf seine Geschwindigkeit auswirkte, auf den Fersen war. Es regnete noch immer und die Felsen, über die er rannte, waren nass. Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, dass die Nebelkrähe hinter Bolun her war, ihn aber nicht aufhalten konnte. Bolun schrie wütend: „Komm her, du Feigling!" Mirhin hatte aber nicht die Absicht, Bolun diesen Gefallen zu tun, solange er ein unbewaffneter Junge war. Er musste weg von diesem Berg und so schnell wie möglich ins Dorf kommen. Hoffentlich würde er dort sicher sein, aber selbst darüber hatte er Zweifel. Er rannte mit einer selbstmörderischen Geschwindigkeit den Hang hinunter. Auf dem nassen Laub kam er ins Schlittern und rutschte aus. Auf ganzer Länge landete er auf dem Boden und schlug sich den Kopf an. Er spürte, dass er ein wenig blutete. Als er die schweren Tritte seines Verfolgers hinter ihm hörte, sprang er auf und hastete weiter den Hang hinunter. Er musste Bolun ganz knapp entkommen sein, denn hinter sich hörte er den Zwerg wütend aufschnauben.

„Wusstest du, dass Morun dich verdächtigt hat, ein Spion zu sein?", knurrte er im Weiterrennen. Der Zwerg musste so ausdauernd wie ein Wolf sein. „Bist du ja auch, oder? Nur steckstest du nicht mit Notron, sondern mit dem Alten unter einer Decke. Jetzt muss ich mich nur noch um dich und um Dinur kümmern, aber wahrscheinlich ist er eh schon an dem Gift verreckt."

Mirhin merkte, dass ihm der Tod im Nacken saß. Er fragte sich, wie ein Zwerg so schnell sein konnte. Er selbst war ein Junge und würde nicht bis zum Dorf weiterrennen können. Der Weg führte jetzt über ganz felsigen Grund. Und obendrein noch scharf an einer steilen Senke, eigentlich schon einer Schlucht, vorbei, deren Rand eine Felswand bildete. Der Herzschlag pochte ihm in den Ohren, aber er ging langsamer weiter, um nicht auszurutschen, während Bolun hinter ihm wieder aufholte.

„Ich mach es mit dir so schnell und schmerzlos wie mit dem Alten.", rief Bolun. „Das ist ein Angebot, oder?" Als sich Mirhin näherte, kam Bolun zwischen den Bäumen hervor, hielt seine mit rotem Blut befleckte Waffe in der Hand. Er keuchte, grinste aber auch wie irre. Sein blutender Arm hing schlaff an seiner Seite.

„Nein!", rief Mirhin.

„Du Dummkopf.", zischte Bolun. „Ein dummer kleiner Mensch bist du!"

Mirhin kam ins Schlittern, als er schneller weiterging, er erreichte aber bald rutschfesten Boden und rannte weiter. Bolun setzte ihm knurrend nach. Mirhin hatte gehofft, dass er ausrutschen würde, aber zu seinem Schrecken schätzte der Zwerg das rutschige Gestein richtig ein und bewegte sich behände in Richtung seiner Jagdbeute. Die Waffe hielt er hoch in der Hand und grinste Mirhin mit einschüchterndem Blick an. Dann war ein schnelles Flügelschlagen zu hören und etwas Schwarzes stürzte sich aus der Luft auf den Zwerg. Die Nebelkrähe hackte im Flug mit dem Schnabel nach Boluns Gesicht. Auf der Stirn erschien eine Wunde.

„Verdammte Krähe!", brüllte Bolun und schlug mit der Klinge nach dem Vogel. Der Hieb ging ins Leere, reichte aber, um ihn selbst aus dem Gleichgewicht zu bringen. Er kam ins Schlittern, rief „Nein!", fiel um und über den Rand. Jetzt konnte er sich nur noch mit seinem linken Arm am Rand festhalten, aber der verletzte Körperteil verweigerte ihm den Dienst. Mit einem letzten Wutschrei fiel er in die Schlucht hinunter. Mirhin beobachtete, wie er mit einem dumpfen Schlag aufkam, die Waffe verlor, den Hang hinunterpolterte , das tote , braune Laub aufwirbelte und, während er vergeblich versuchte sich irgendwo festzuhalten, einem Felsen entgegenfiel. Er kam mit dem Kopf voran auf.

Ein Knacken war zu hören.

Dann war es vorbei. Mirhin sah im Herbstlaub einen toten Zwerg liegen, über den sich die aufgewirbelten Blätter legten. Es sah aus, als würde er hierhin gehören. Mirhin drehte sich um und rannte weg von diesem Ort, als würde ihn ein Heer der Dämonen jagen.

Vier Tage später kehrte er aber hierhin zurück.

Der Winter kam schnell in den Bergen und es schneite. Es waren dünne Schneeflocken und der Boden war noch nicht kalt genug, um sie zu halten. Der Wald hatte jetzt jede bunte Farbe verloren und Mirhin musste sich immer wieder an einen Baum stützen, wenn ihn die Traurigkeit überwältigte. Bolun lag noch immer dort, wo er ihn zuletzt gesehen hatte. Es war einfach ein toter Körper, über den sich noch mehr tote Blätter gelegt hatten. Wölfe waren gekommen und hatten das Fleisch zerbissen. Raben waren auch in der Nähe, aber die Anwesendheit von zwei Gestalten in der braunen Einsamkeit störte sie.

„Dort ist er.", sagte Mirhin seinem Begleiter.

Dinur schaute hinunter in die Schlucht, wo der Leichnam lag und nickte. Sein Aussehen verriet, dass er dem Tod selbst ganz nahe gewesen war. Das Gift hatte deutliche Spuren in seinem hageren Gesicht mit den jetzt hohlen Wangen und der über die Knochen gespannten Haut hinterlassen. Aber er war auf dem Weg der körperlichen Besserung, seelisch würde er noch einige Qualen durchleiden müssen, vor denen ihn keine noch so gute Pflege bewahren konnte. Obwohl er noch in schlechter Verfassung gewesen war, hatte er von dem Augenblick an, wo er von den Dingen im Tann erfahren hatte, hierhin kommen wollen. Er fasste es als seine Pflicht auf. Er trug sein ganzes Marschgepäck und eine Schaufel. In der Hand hielt er einen goldenen Ring mit dem Zeichen des Königshauses von Amrohoc. Er hatte ihn von Onruns Hand genommmen. Der Anblick der im Wald verstreuten und teilweise von wilden Tieren verstümmelten Leichen mit ihren Wunden und Verletzungen hatte ihn ganz still werden lassen, aber Mirhin musste ihm noch einige Fragen stellen, er konnte gar nicht anders.

„Haben sich Bolun und Granur vorher schon verdächtig gemacht?", fragte er.

Dinur sagte nichts und dachte nach, den Blick auf den Leichnam gerichtet. Als er sprach, war seine Stimme hohl und rau: „Nein, niemals wirklich. Sie haben miteinander geredet, aber das hat sie nicht verdächtig gemacht. Sie haben ihren Plan erst dann in die Tat umgesetzt, als sie ungefähr wussten, wo Onrun zu finden war."

„Da haben sie es mit Gift versucht.", bemerkte Mirhin.

„Ich habe das vergiftete Bier getrunken und den Rest verschüttet. So habe ich mir selbst das Leben gerettet." Er lachte mit rauer, heiserer Stimme. „Die Götter haben eine unheimliche Art das Schicksal von unsereins zu bestimmen."

„Hatten Bolun und Granur nun Erfolg oder haben sie versagt?", fragte Mirhin mit einer Neugier, die von der Trauer nicht ganz unterdrückt werden konnte.

Dinur fühlte sich in der Pflicht, Mirhin zu antworten, auch wenn er es nicht gerne tat. „Fürst Onrun hat sein Volk verlassen, als wir das Bündnis mit Notron schlossen. Als Notron die Bündnisbedingungen immer weiter brach, wollte unser König seinen Onkel zurückholen und zum obersten Berater machen. Er hätte die Gegner von Notron zusammengehalten. Unser König kann nicht ganz alleine herrschen, sondern muss immer den Willen der verschiedenen Sippen berücksichtigen. Onrun hat es immer wieder geschafft die Sippen zusammenzuhalten. Weil ihm das Schicksal Recht gegeben hat, hätte man ihm einen königlichen Empfang bereitet und sein Ansehen wäre so groß gewesen, dass er sich sicher gegen die Anhänger des Bündnisses durchgesetzt hätte. Das wollte Notron verhindern und das hat es auch erreicht. Er ist tot."

Sie gingen ein wenig weg von der Schlucht, um etwas anderes sehen zu können. Vor ihnen erstreckte sich eine Kette verschneiter Berge mit den braunen und dunkelgrünen Tälern. Ein Schwarm Krähen flog über sie hinweg.

„Ich hätte nicht gedacht, dass unter Zwergen Verräter sein können.", sagte Mirhin.

Dinur ließ sich mit der Antwort wieder Zeit. „Das denkt niemand, auch Zwerge denken nie, dass unter ihnen Verräter sein könnten. Aber jedes Volk ist durch Gold und das Versprechen von Macht verderbbar." Er schwieg wieder eine Weile. „Du hast Glück, Mirhin, dass du hier lebst. Hier ist es lange her, dass zuletzt Kriege geführt wurden. Die Stele erinnert an einen großen Sieg unseres Königs Darbon gegen die Orks." Er machte wieder eine Pause. „Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese schrecklichen Dinge genau dort passiert sind."

Mirhin wusste nicht, was das bedeuten sollte.

Dinur fuhr fort: „Onrun muss geahnt haben, dass Notron seinen Tod wollte. Du hast mir berichtet, was er gesagt hat. Er muss mehr gewusst haben, als man es erwarten konnte, wenn er allein hier in der Wildnis lebte."

„Die Nebelkrähe…", sagte Mirhin. Langsam erhellte sich ihm einiges.

Dinur nickte. „Raben und Krähen sind schlaue Tiere. Sie hat ihm geholfen. Er wollte dich als Zeugen seines Todes haben."

„Wieso?" Mirhin verstand es nicht.

Dinur dachte nach, bevor er es ihm erklärte: „Onruns Tod war für seine Absichten und Pläne gegen Notron vielleicht nützlicher als alles andere, was eintreten konnte."

Mirhin hörte genau zu, auch wenn seine Verwirrung groß war.

„Ein toter Held ist oft besser als ein lebender. Zumal wenn er der Onkel des Königs war. Kaum eine Sippe wird behaupten können, dass man die Ermordung eines solchen Zwergs dulden müsste. Der Krieg mit Notron wird kommen. Die Rache wird kommen, sobald ich nach Amrohoc zurückgekehrt bin. Ich werde aufbrechen, wenn die Toten begraben sind. Selbst Bolun und Granur verdienen es, ein wenig Erde über ihren toten Körpern zu haben."

„Wirst du noch einmal ins Dorf kommen?", fragte Mirhin.

Dinur schüttelte entschieden den Kopf. „Wir werden uns nicht wiedersehen. Meine Reise wird einsam sein. Das ist auch besser so."

Mirhin verstand. Er war noch immer neugierig, aber er hatte viel von der Welt da draußen verstanden. Es war eine Welt, die mit den Sagen der Gebirgsbewohner wenig zu tun hatte, die kalt und grausam war. Wo der Krieg tobte. Er hatte einmal gesehen, wie der Krieg aussehen konnte, und er wollte das nicht noch einmal erleben. Er nickte.

Dinur wollte noch etwas sagen: „Du hast dich als ein Freund unseres Volkes bewiesen, auch wenn du außer mir und den Toten keinen anderen Zwerg jemals gesehen hast. Dein Name wird im Gedächtnis unseres Volkes bleiben und die Goldstücke und die Fibel, die du bekommen hast, werden deinem Verdienst sicher nicht gerecht."

Mirhin schwieg, dabei war das, was er bekommen hatte, ein Vermögen. Aber es war ein freudloses Vermögen, das Gold wollte er am liebsten niemals ansehen. Dinur hatte ihm eine silberne Fibel gegeben, seine eigene, die er aber in seiner Tasche verstaut hatte. Er wollte das Schmuckstück nicht immer wieder ansehen, zu viel Schmerz schmeckte dahinter. Ein kalter Wind wehte ihm ins Gesicht.

„Gibt es noch etwas, was man zum Abschied sagen sollte?", fragte Dinur.

Mirhin schüttelte leicht den Kopf. „Ich glaube, alles ist gesagt."

Und er ging den Hang hinunter. Schnee fiel auf seinen Weg und tote Blätter schwebten durch den Wald. In einigem Abstand begleitete ihn eine Nebelkrähe.

Ende

Bearbeitet von Murazor
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Wow, das ist ja ein ziemlich mitnehmendes Ende...

Ich finde die Idee gut, dass der Held, also Onrun, tot noch weit mehr bringt, als lebend. Ist zwar anfangs verwirrdend und vor allem, dass er sich "einfach so" ermorden lässt ist schon ein hartes Ding. Man hätte erwarten können, dass jetzt irgendeine hohe Magie Dinge geschehen lässt, aber dem war nicht so. Find ich gar nicht so schlecht...

Dann fand ich am Anfang und auch im weiteren Verlauf der Geschichte, dass zu oft die Verbindung zu den Sagen angesprochen wurde. Zwar mögen diese Sagen viel Einfluss auf so einen Bauernjungen haben (und auch auf die Erwachsenen natürlich ;-) ), aber das war fast zu oft. Vielleicht reicht auch einfach mal ein anderes Wort (Erzählungen, Geschichten, ...) zur Belebung in der Sache. Aber wenn das in der Welt prägend ist, dann passt das so, egal was ein Ordwergar da verzählt! :-)

Es gibt kleine Wiederhlungsfehler oder mal ein falsches Wort, aber das merkt man im durchlesen schon von alleine... ist aber nicht wild.

Aber doch eine schöne Geschichte, vor allem dass Zwerge mit drin vorkommen. :-O

Achja, genau, den Titel fande ich auch toll. Ich kann schlecht sagen, was er in mir weckt, aber er ist auf jeden Fall schön ausgewählt.

Viel Spaß beim Weiterschreiben von anderen Geschichten (würd mich aber auch auf eine Fortsetzung der hier freuen ;-) )

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  • 5 Wochen später...

Es ist die silberne Fibel.

Aber du liegst schon ganz nah an dem, was ich plane. Aber Geduld: Wenn ich was schreibe, wird zuerst mal wochenlang geplant.

Ja, Geduld hab ich. Hab ja schon ein paar Wochen gewartet, da schaff ich den Rest auch noch ;-) . Ich bin sowieso einer, der bei der spannensten Geschichte das Buch jederzeit weglegen kann.

Schade eigentlich, dass hier so wenige die Geschichte lesen. Ich fand sie richtig gut und vor allem "Der Zwerg im Tann" - Das hat doch gleich mal mein Interesse geweckt. :-O

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  • 1 Monat später...

Hallo^^

Ich hab deine Geschichte mal gelesen und muss sagen,dass ich sie wirklich gut finde.Schön zu lesen und gut vorzustellen.Hab mich manchmal gefühlt als würde ich auch mit den Zwergen wandern.

Ich freu mich auf die geplante Fortsetzung.

Viel Spaß beim schreiben

Elandi

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Dankeschön. Ich freue mich, dass dir die Geschichte gefallen hat. Vor allem weil das, was ich schreibe, nicht gerade schön ist. Bei mir gibt es kein richtiges Happy End. Vielleicht war es das Beste, dass ich das Gemetzel bis zum Schluss aufgehoben habe.

Ich arbeite gerade an einer Fortsetzung. Die Welt, die ich da erschaffe, ist sehr komplex und, auch wenn es sehr viele Ähnlichkeiten zu Tolkien gibt. Ich bewundere Tolkien, seine Idee und seinen Erzählstil, aber ich habe bei ihm auch Dinge entdeckt, die mich befremdet haben. Also versuche ich sie, wenn ich selbst schreibe, zu vermeiden oder in die entgegengesetzte Richtung zu gehen.

"Diener des Dämonensterns" müsste gezeigt haben, dass Mirhins Geschichte kein lustiges Abenteuer wird. "Zwerg im Tann" handelte in einer isolierten Bergwelt. Ich kann jetzt nicht vermeiden, dass die Geschichte in der großen Welt weiterspielt. Und da werde ich gezwungen sein mit einigen Dingen von "Zwerg im Tann", vor allem mit bestimmten Aufbaumerkmalen, zu brechen. Was noch kommt, wird realistischer und keine Gute- Nacht- Geschichte.

Wenn wer das dagegen hat, soll er das schnell sagen.

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Bin einverstanden, muss aber am Wochenende erst noch deine andere Geschichte in dem Gebiet lesen, bei mir dauert das immer bisschen ;-)

Mich würde jetzt nur interessieren, was dich an Tolkien befremdet hat und du das ändern willst in deinen Geschichten/deiner Welt. Oftmals denke ich auch, dass manche Sachen einfach nur zu logisch sind und das sich das für Fantasy so gehört und bei Tolkien findet man halt alle solcher Merkmale und dann hab ich kein schlechtes Gewissen im Bezug auf Nachmachen, weil ich finde, dass es einfach so sein muss.

Ich hoffe ich konnte es verständlich ausdrücken, ist halt alles ein bisschen verworren.

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Keine Sorge, ich werde keine fertige Geschichte ins Forum stellen. Was noch kommt, wird ziemlich happig und ich werde es nur stückchenweise hineinstellen können, sonst wird es noch ein halbes Jahr dauern.

Zu deiner Frage, Ordwergar: Mich befremden bei Tolkien die etwas zu strikte Trennung der Völker, die zu edlen Herrscherdynastien, die zu wenig bodenständige Schilderung von Wirtschaft, Staat und Militär und das Weglassen gesellschaftlicher Veränderungen. Ich beschäftige mich zu sehr mit Wirtschaft, Politik und Geschichte, um mich daran nicht stören zu können.

Das heißt aber nicht, dass ich ein Tolkien- Gegner wäre. Im Gegenteil: Ich verehre Tolkien für seine Ideen, den Entwurf eines eigenen Kosmos, die Schaffung eines eigenen Literaturgenres, seinen Schreibstil und den guten inhaltlichen Aufbau seiner Werke, die teilweise an die großen Heldeneben erinnern, wie Túrin, nur für den heutigen Geschmack.

Wenn ich etwas gegen Tolkien an sich hätte, wäre ich dann hier?

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Da ichs hier noch nicht erwähnt habe,eine klasse Geschichte!

Du hast allgemein Talent fürs Schreiben,alle Geschichten die ich bisher von dir gelesen haben,waren klasse geschrieben und sehr spannend gehalten. :anbet:

Ich freue mich schon auf die neue die du reingestellt hast,werd sie gleich verschlingen :coffee:

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