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Frodos Isolation - Johns Trauma?


anachronist

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Bei der Darstellung von Frodo habe ich schon immer das Gefühl gehabt, das Frodo in gewisser Weise eine Außenseiter ist. Ein Misfit. Er ist kein Ausgegrenzter oder Geächteter, aber er wirkt immer ein bisschen umständlich und wird von seinen Freunden auf die Schippe genommen. Sam unterwirft sich im total und ist deswegen eigentlich nicht als Freund zu betrachten. Merry, Pippin und Dick Bolger helfen ihm beim Umzug von Beutelsend nach Krickloch, aber sie beobachten und "schützen" ihn dabei auch. Er wirkt nicht wie ein Teil der Gruppe.

 

Sehr interessant finde ich dabei auch, dass Maggot sagt, das Frodo "die schlimmste Rotznase" gewesen sei, den er verprügelt habe und auf den er seine Hunde losgelassen habe (wenn auch nur um ihn zu erschrecken). Frodo - ein problematisches Kind, aufsässig, kriminell mit sozialen Anpassungsschwierigkeiten?

 

Bilbo nimmt ihn irgendwann 2980 D.A. zu sich, weil Frodos Eltern bei einem Schiffsunglück ertrinken. Wie große war der Abstand zwischen dem Unglück und dem Umzug? WO war Frodo in dieser Zeit? Wie gut kannte Frodo seinen Onkel? Und was wusste er über ihn, den Schatzsucher?

 

Aus dem Blickwinkel der heutigen Psychologie ist davon auszugehen, dass Frodo durch den Tod seiner Eltern schwer traumatisiert wurde. Wie hat er das ertragen? Mit welchen Kompensationsstrategien hat er Angst und Trauer ausgehalten? Aggressivität? Krininalität? Depression? Gehen wir davon aus, dass Frodo sicher gebunden war, ein liebevolles Verhältnis zu seinen Eltern hatte und plötzlich von einer Stunde zur anderen alleine war, dann kann dies durchaus eine Grundüberzeugung nach sich ziehen, letztendlich alleine zu sein, nicht dazu zu gehören, verlassen zu werden. Und dann nimmt ihn auch noch der Querkopf und Sonderling Bilbo auf, selber ein totaler Einzelgänger, der keine Familie hat.

 

Mit Freundlichkeit und Pragmatismus zieht Bilbo Frodo auf, so dass dieser die sozial unerwünschten Verhaltensweisen ablegt und sich kompetent und freundlich entwickelt. Aber auch er verlässt Frodo und entschwindet ihn die Ferne. Der junge Mann Frodo ist wieder auf sich selbst gestellt, muss reif und erwachsen sein und die Geschäfte übernehmen. Er hat kein Ruhepol, keine alte Heimat, wo er sich zu seinen Eltern an den Tisch setzen kann, die ihm dann sagen, dass er ein guter Junge ist und ihm seine Lieblingserbsensuppe machen. Und so bleibt ein tief empfundenes Gefühl der Isolation, das auch die zugewandten Freunde nicht auflösen können (Die alle aus scheinbar glücklichen und intakten Familien stammen). Das alles greift die Einsamkeit des Ringträgers schon vor, bahnt sie an oder kulminiert in ihr.

Auch nach dem Ringkrieg bleibt Frodo alleine. Er gründet keine Familie, er hat keine Kinder er nimmt kein Amt an. Er bleibt einsam. Er reinszeniert sein Kindheitstrauma der Isolation. Ist nicht in der Lage, die Dinge zu ändern und wird weiterhin von Sam und seiner Familie "betreut".  Das ist psychologisch gesehen alles total stimmig. Aber wie kommt das?

 

Ich glaube, Prof. Tolkien verarbeitet hier sein Kindheitstrauma. Das Verlust der Heimat (Südafrika-Bockland), und der Verlust der Eltern. John und Frodo werden beide mit 12 Vollwaisen. Frodo verliert beide Eltern gleichzeitig. John verliert erst seinen Vater (mit 4) und sieht dann, 8 Jahre später die Mutter innerhalb von 7 Tagen dahinsiechen und sterben. John und Frodo haben zweimal Glück im Unglück insofern, als das sie eine schöne neue Heimat und einen liebevoll zugewandten Ersatzvater bekommen. Das schwächt die Auswirkungen der Verluste ab, negiert sie aber nicht.

 

Die verbreitete Erkenntnis, Tolkien habe im Ringkrieg seine Kriegserlebnisse und -traumata verarbeitet, widerspricht dem keineswegs, es bestätigt sie meiner Auffassung nach vielmehr. John schafft es übrigens im Gegensatz zu Frodo, seinem traurigen Alter Ego, den Kreis der Einsamkeit zu durchbrechen, er heiratet und hat Kinder, zu denen er wohl auch eine sehr liebevolle Beziehung gehabt hat. Wie er sich aber gefühlt hat, steht auf einem anderen Blatt. Oder eben leider nicht...

 

Ich würde sagen, dass Tolkien sich selbst in Bilbo und Frodo findet. Wobei Bilbo eine viel frühere und seichtere Selbstbeobachtung darstellt, während Frodo ein sehr weit fortgeschrittenes Maß an Selbstreflexion bezeugt. Und das liegt nicht daran, dass der Hobbit ein Kinderbuch ist und der Herr der Ringe eine Erwachsenenbuch, sondern daran dass Tolkien schon viel älter war, als er den Ringkrieg schrieb.

 

Über eine angeregte Diskussion, mit konstruktiver Kritik und/oder Ergänzung würde ich mich sehr freuen!

 

Anmerkung: Die oben aufgeführten Ideen und Schlussfolgerungen sind Resultat meiner eigenen Gedanken. Dennoch ist zu vermuten, dass sich bereits schon jemand vorher intensiver und kompetenter damit befasst hat. Solltet Ihr Wissen darüber haben, wäre ich euch für einen Link oder Hinweis überaus dankbar!

Bearbeitet von anachronist
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Zweifellos ein interessanter Gedankenansatz. Ich denke es ist keine Frage, dass sich Tolkien durch die Übereinstimmungen zwischen seiner und Frodos Biographie besonders gut in diese Figur hineinfühlen konnte. 

 

Man muss allerdings sehen, dass es sich dabei um ein sehr beliebtes und gängiges dramaturgisches Mittel handelt: Ein Einzelgänger und Waise funktioniert als Protagonist einfach gut, sei es Hamlet, Luke Skywalker oder Harry Potter. Eine tragische Backstory verleiht einer Figur automatisch Sympathie und Mitleid, oft kombiniert mit dem "vom Tellerwäscher zu Millionär"-Schema. 

 

Ich kenne mich in Tolkiens Biographie auch zu wenig aus, um beurteilen zu können wie sehr er selbst als Einzelgänger wahrgenommen wurde. Zumindest Schilderungen der Inklings-Treffen wecken da schon tendenziell einen anderen Eindruck. 

Andererseits kann ich mir Tolkien schon gut als introvertierte Person vorstellen, die sich völlig in ihrer Fantasiewelt verliert. Ich meine irgendwo Berichte gelesen zu haben, wie Tolkien auf Wanderungen in elbisch und wasweissich in sich hineinbrabbelte. (so wie ich Berenfox kenne kann er mir bestimmt eine Quelle dafür liefern  :bengel: )

Bearbeitet von Beleg Langbogen
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Sicher ein interessanter Gedankengang. Parallelen zwischen einem Autoren und seinen Kreaturen zu suchen und zu finden ist durchaus spannend. Was man daraus deuten kann ist meiner Ansicht nach allerdings mehr als fraglich. Schon deine psychologische Deutung Frodos geht stark in Richtung Fan-Fiction-hafter Erweiterung dessen, was der Text uns über Frodo verrät. Das Ergebnis aber mit Tolkiens Psyche gleichsetzen zu wollen geht dann wirklich einen Schritt zu weit. Selbst Charaktere wie Beren und Lúthien, von denen wir wissen, dass Tolkien sie als Repräsentanten seiner selbst und seiner Frau gesehen hat, sind völlig frei gestaltet und weisen kaum direkte Parallelen auf. Die Parallelen, auf die es ankommt, liegen auf anderen Ebenen.

 

Ich würde Tolkien auch weder als Einzelgänger noch als introvertiert charakterisieren. Er hatte seine Ticks, sicher, aber wer hat die nicht. Tolkien war immer ein geselliger Kerl, der gute Gesellschaft zu schätzen wusste, von seiner Schulzeit an bis zu seinem Lebensende. Natürlich hatte Tolkien Verluste zu beklagen, und diese haben sich sicher auch in seinem Denken und seiner Sicht auf die Welt - und somit letztlich auch in seinen Werken - niedergeschlagen. Aber man sollte Tolkiens Werk, auch nicht einzelne Aspekten davon, dahingehend verkürzen, dass sie eine allegorische Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen sei.

 

Beleg: Leider bin ich grad nicht daheim und muss dich enttäuschen, da kann ich dir gerade keine Quelle liefern.

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>>Man muss allerdings sehen, dass es sich dabei um ein sehr beliebtes und gängiges dramaturgisches Mittel handelt: Ein Einzelgänger und Waise funktioniert als Protagonist einfach gut, sei es Hamlet, Luke Skywalker oder Harry Potter. Eine tragische Backstory verleiht einer Figur automatisch Sympathie und Mitleid, oft kombiniert mit dem "vom Tellerwäscher zu Millionär"-Schema.<<

 

Zunächst mal ist Luke keine Waise. Letztendlich dreht sich die erste Trilogie genau darum, dass er eine Familie hat und Harry Potter ist einfach ein Konglomerat von Kinderbuchstandards. Aber du hast trotzdem Recht. Das Waise-sein schadet dem Plot und dem Drama sicher nicht.

 

>>Schon deine psychologische Deutung Frodos geht stark in Richtung Fan-Fiction-hafter Erweiterung dessen, was der Text uns über Frodo verrät.<<

 

Nein, eigentlich gar nicht. Wenn wir Frodo eine psychische Entwicklung analog der menschlichen zubilligen wollen, wogegen nichts spricht, dann ist der plötzlliche Verlust von Eltern und Heimat überaus schmerzhaft und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit traumatisch. WIr müssen also nur wissen, dass Frodo beides verliert um damit arbeiten zu können. Und dass er beide Eltern verliert und danach nach Beutelsend zieht wissen wir von Tolkien selbst. Die Bemerkung von Bauer Magott ist nur ein Hinweis auf eine mögliche und sogar sehr wahrscheinliche (weil oft in vergleichbaren Fällen beobachtbare) Bewältigungsstrategie. Wir müssen das nicht vertiefen, weil es relativ belanglos ist, obwohl es die These des traumatisierten Kindes durchaus stützt. Auch die Beziehung zu seinen Eltern ist letztendlich irrelevant. Da Tolkien die Hobbits aber grundsätzlich als liebenswerte und harmonieorientierte Wesen darstellt, ist es unwahrscheinlich, dass Frodos Elternhaus von häuslicher Gewalt, Abhängigkeitserkrankungen oder Kriminalität geprägt war. Wir können also davon ausgehen, dass Frodo den Tod seiner Eltern nicht als Befreiung erlebt hat.

 

Dass er danach zu seinem isolierten Sonderlingsonkel zieht, ist ebensowenig Fanfiction, wie die Ablehnung, die er aufgrund seiner Herkunft von gewissen Teilen der Auenländer erfährt (bspw. Tim Sandigmann und Lobelia und Otho Sackheim-Beutlin).

 

Dann haben wir die Tatsache, dass alle seine nahen Bezugspersonen wesentlich jünger sind als er (Merry 14, Pippin 22, Sam 12 Jahre). Er wendet sich in seiner Not nicht an sie, sondern versucht, die überwältigende Aufgabe ganz alleine zu stemmen (obwohl er ahnt, dass er das nie schaffen kann) und ist verblüfft, dass die anderen ihm helfen wollen, sich über ihn Gedanken machen, ihn unterstützen. Nichts davon ist Fanfiction. Aber alles passt in das selbe Muster des isolierten Frodo.

 

>>Das Ergebnis aber mit Tolkiens Psyche gleichsetzen zu wollen geht dann wirklich einen Schritt zu weit. Selbst Charaktere wie Beren und Lúthien, von denen wir wissen, dass Tolkien sie als Repräsentanten seiner selbst und seiner Frau gesehen hat, sind völlig frei gestaltet und weisen kaum direkte Parallelen auf. Die Parallelen, auf die es ankommt, liegen auf anderen Ebenen.<<

 

Zunächst mal habe ich nichts von Beren und Luthien geschrieben. Außerdem bringt jeder Künstler sich selbst in sein Werk ein - bewusst und unbewusst. Auch ein abstraktes Kunstwerk, das mit einem Zufallsgenerator erschaffen wurde, ist ein Statement.

 

Zudem sind die Parallelen zwischen Frodo und John überdeutlich. Dass beide mit 12 Vollwaisen sind - Zufall? Dass sie nach demTod der Eltern in die Obhut eines allein lebenden Mannes kommen - Zufall? Dass sie beide in einer zentralen traumatischen Lebenserfahrung nahezu alle Gefährten verlieren - Zufall? Das erscheint mir eine echt verrückte Häufung zu sein. Und auf welche Parallelen es ankommt, liegt im Auge des Betrachters.

 

War Tolkien sein Leben lang introvertiert, isoliert und einsam? Nein, das war er nicht und das habe ich auch nicht behauptet. Ich behaupte eher, dass die die Darstellung von Isolation Frodos, der ja tatsächlich sein Leben lang isoliert, zurückgezogen und einsam bleibt, eine Bewältigungsstrategie Tolkiens war, mit seinem Kindheitstrauma umzugehen. Und wer weiß, vielleicht ist die ihm ja geglückt?

 

>>Aber man sollte Tolkiens Werk, auch nicht einzelne Aspekten davon, dahingehend verkürzen, dass sie eine allegorische Auseinandersetzung mit den eigenen Problemen sei.<<

 

Nein, das sollte man nicht und das tue ich auch überhaupt nicht. Davon hat sich Tolkien ja auch immer völlig verständlich distanziert. Sein Werk besteht aus wesentlich mehr als der Figur Frodo. Die ist ja letztendlich nur eine Randerscheinung. Es wäre absurd, das tolkiensche Gesamtwerk auf Frodo und den Ringkrieg zu reduzieren. Ich finde es aber trotzdem interessant, die Parallelen zu verdeutlichen.

 

Und es wäre doch auch interessant, weitere Parallelen herauszuarbeiten.

Bearbeitet von anachronist
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Sehr interessant finde ich dabei auch, dass Maggot sagt, das Frodo "die schlimmste Rotznase" gewesen sei, den er verprügelt habe und auf den er seine Hunde losgelassen habe (wenn auch nur um ihn zu erschrecken). Frodo - ein problematisches Kind, aufsässig, kriminell mit sozialen Anpassungsschwierigkeiten?

 

Bilbo nimmt ihn irgendwann 2980 D.A. zu sich, weil Frodos Eltern bei einem Schiffsunglück ertrinken. Wie große war der Abstand zwischen dem Unglück und dem Umzug? WO war Frodo in dieser Zeit? Wie gut kannte Frodo seinen Onkel? Und was wusste er über ihn, den Schatzsucher? ...

 

...Mit Freundlichkeit und Pragmatismus zieht Bilbo Frodo auf, so dass dieser die sozial unerwünschten Verhaltensweisen ablegt und sich kompetent und freundlich entwickelt.

 

Frodo war bereits um die 20, nach menschlichen Maßstäben erwachsen, als er zu Bilbo kam. Ich denke nicht, dass man hier von aufziehen sprechen kann oder dass er danach unerwünschte Verhaltensweisen wieder aufgab. Ich sehe die Bemerkung von Maggot eher als eine Beschreibung der normalen vorübergehenden Entwicklung in der Pubertät. Für mich kein Verweis auf soziale Probleme. Dass er der "schlimmste" war besagt ja schon, dass er nichts aussergewöhnliches für einen jungen Hobbit tat. Im Gegenteil: Er war genau wie alle anderen, nur etwas schlimmer. Das verweist für mich nur auf eine vermeindliche Dickköpfigkeit oder Beharrlichkeit von Frodo. Abgesehen von möglichen Übertreibungen des Erzählers, um das loslassen der Hunde zu rechtfertigen. Offensichtlich tat ihm das Leid und er schenkte Frodo als späte Entschuldigung einen großen Korb Pilze. Denn ebenso offensichtlich hat Frodo Angst vor Maggots Hunden. Das ist hier das unerwähnte Trauma.

 

 

Aus dem Blickwinkel der heutigen Psychologie ist davon auszugehen, dass Frodo durch den Tod seiner Eltern schwer traumatisiert wurde. Wie hat er das ertragen? Mit welchen Kompensationsstrategien hat er Angst und Trauer ausgehalten? Aggressivität? Krininalität? Depression? Gehen wir davon aus, dass Frodo sicher gebunden war, ein liebevolles Verhältnis zu seinen Eltern hatte und plötzlich von einer Stunde zur anderen alleine war, dann kann dies durchaus eine Grundüberzeugung nach sich ziehen, letztendlich alleine zu sein, nicht dazu zu gehören, verlassen zu werden. Und dann nimmt ihn auch noch der Querkopf und Sonderling Bilbo auf, selber ein totaler Einzelgänger, der keine Familie hat.

 

Jenseits der Psychologie sind Bilbo und Frodo enge Verwante. Daraus können sich ebenfalls Ähnlichkeiten in Verhaltensweisen ergeben. Ausdrücklich hingewiesen wird immer auf die Tuk-Linie, die die erwünscht phlekmatischen Verhaltenweisen der Hobbits untergräbt.

Ich kann mir z.B. leicht vorstellen, dass das gruppengezwungene Unterdrücken der Tuk-Linie zu besonders, übertriebenes phlegmatisches Verhalten führt, das dann wiederum andere (ungewöhnliche/unstatthafte) Besonderheiten hervorbringt, wie nicht geselliges Verhalten und folgend Singleleben. Eine Art selbst gewälte Hemmung, die Gandalf bei Bilbo löst und damit wird Bilbo in der Hobbitgesellschaft erst recht sonderlich. Selbst ist er ganz glücklich damit und nimmt dafür das sowieso gewohnte Sonderlingleben gerne in Kauf. Bei Frodo ist es etwas anders. Er hat keine Wahl, für ihn gibt es kein niedliches Abenteuer (der Zwerge/ anderen) für das er sich entscheiden kann oder nicht, sondern es steht das Fortbestehen der freien Völker, also auch der Hobbits, auf dem Spiel. Das heißt er wird mit einer besonderen Verantwortung belastet. Meiner Ansicht nach unterscheidet sich seine Isolation vor und nach der Ringgeschichte in dieser Hinsicht erheblich. Die Isolation vor dem Weggang von Beutelsend finde ich auch bemerkenswert. Sie scheint mir unschlüssig, besonders die 17 Jahre zwischen dem Erben des Rings und dem Aufbruch nach Mordor. Was hat er in diesen 17 Jahren nur getrieben? Aber vielleicht trifft für diesen Zeitraum ja Deine psychologische Beschreibung in etwa zu.

 

Die Isolation nach seiner Rückkehr hingegen erscheint mir absolut plausiebel. Nach den Erfahrungen, die er gemacht hat, hat er Schwierigkeiten die Dinge in einem persönlichen Rahmen zu halten, so wie Sam es die ganze Zeit über tat (Er war ausschließlich auf die Verantwortung für Frodo fixiert und so von der großen, schweren Verantwortung des Rings abgeschnitten. Er ist also in seinem persönlichen Rahmen geblieben.). Frodo war gezwungwen diesen Rahmen zu sprengen. Er ist auf seine Aufgabe nicht vorbereitet worden, so wie z.B. Aragorn. Selbst der hat sich lange Zeit davor gedrückt und hegte Zweifel, ob er seine Aufgabe (die Führung in das 4. Zeitalter) bewältigen kann. Gandalf musste ihm gut zureden und das "plötzliche" Auftauchen des Schößlings des weißen Baumes gab ihm die Zuversicht, die er brauchte.

All das hatte Frodo nicht und er muss in der Tat mit seinen Erlebnissen allein fertig werden, weil es schlicht niemanden in seiner Umgebung gibt, mit dem er sie be-/verarbeiten kann. (Ich erinnere an das Verhältnis zu Gollum.) Da kommt vielleicht auch die Frage auf, ob er die Verantwortung für eine Famielie übernehmen will oder kann. Seine Verantwortung liegt im Aufzeichnen seiner Erlebnisse, so wie es zuvor sein Onkel tat. Oder auch Pippin und Merry. Das Aufzeichnen ist eine "Gebrauchsanleitung" für die Nachwelt, falls sich die Gegebenheiten wieder zum Schlechten wenden sollten. Eine Mahnung, es nicht so weit kommen zu lassen. Die Aufzeichnungen werden dann von Sams Familie verwahrt, denn immerhin ist auch bei Sam die Bedeutung klar. Er hat die Auswirkungen des direkten Kontakts zum Rings zwar nicht erfahren (oder nur kurz), aber gesehen. 

 

All das kann natürlich in Allegorie zu Tolkiens Leben gesetzt werden. Ob das sinnvoll ist, ist eine andere Frage.

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Es gehört zu den großen Mysteriën der Rezeption lebendiger Phantasiegeschichten, daß sich ihr Verständnis der modernen Psychologie umso gründlicher entzieht, je tiefer diese dort gräbt.
Ohne die nötige Verve taugen geisteswissenschaftliche Ansätze nicht dazu, die Werke Tolkiens zu erhellen. Ihr grundsätzliches Scheitern hat Tolkien selbst mit seiner höchst allegorischen Turm-Parabel für alle Zeiten entlarvt.
Aber wer hier wollte dem anachronisten ernsthaft die erfrischende Glasperlenspielerei verübeln? Wir alle lechzen ja nur nach einer neuen Hypothese oder ungewöhnlichen Blickwinkeln, anhand derer wir den Lieblingsstoff abklopfen oder sogar wieder ganz von vorn aufrollen können.

Sinnlos, die Gefühlswelt der Auënländer nach modernen Begriffen zu pathologisieren. Im Gegensatz zum Silmarillion handelt es sich bei der Text-Situation des Herrn der Ringe tatsächlich im Kern um eine soziale Semantik. Die Hobbits sind der Maßstab aller Dinge. Ihr Blick in die Welt konstruïert die Wunder Mittelerdes.

Daher trägt eine Untersuchung der Kollektiv-Beziehungen der Völker Ardas weit mehr zum Verständnis der charakterlichen Komposition der beiden Beutlin-Protagonisten bei, als die psychologische Einzelbetrachtung der Figuren. Ariën hat mit der gesellschaftlich erwünschten Neophobie der Auënländer, zu der unsere Fallohide-Helden kontrastieren, bereits den richtigen Anstoß gegeben.

Wer dem Leser die vornehme Herrlichkeit sanftmütiger Elben oder die Widerwärtigkeit häßlicher Yrch veranschaulichen möchte, braucht eben engstirnige, kleinbürgerliche Hobbits als Basispunkt seiner Beschreibungen. Ohne die Vermittlung durch die auënländische Normalität hätte der Autor die superlativen Attribute seiner Fabelwesen nur stumpf behaupten können, ohne unsere Vorstellungskraft anzuregen. Der Zauber entsteht erst im kulturellen Verhältnis der Völker untereinander.

Der Hang zur Absonderung, den wir zweifellos bei beiden Beutlins beobachten, erklärt sich demnach aus ihrer medialen Funktion. Da sie Grenzgänger zwischen friedlicher Provinztristesse und der Welt der großen Abenteuer sind, passen sie nicht recht in den profanen Alltag ihrer Mitmenschen. Sie wohnen unter den Auënländern, sind aber gleichzeitig schon halb in Richtung ihrer Geistesverwandtschaft zu den Elben entrückt. Letztendlich warten sie in Beutelsend nur auf die Eressea-Passage in ihre wirkliche Heimat.

Wie Berenfox bereits richtig angemerkt hat, liefert Tolkiens Biographie kaum Inspiration für einen anständigen Einzelgänger. Stattdessen lesen wir, wie er in nahezu jedem Lebensabschnitt literarische Klubs gründet oder sich bestehenden Debattierzirkeln anschließt, wo nicht selten bis spät in die Nacht gezecht wird. Hinzu kommt das intensive katholische Gemeindeleben, in das Tolkiens Glauben eingebettet ist.
Sehr dürftig müßte der Steppenwolf ausfallen, der nach diesem Vorbild entstünde.

Mit einer winzigen Korrektur könnte der Ansatz des anachronisten allerdings eine gewisse biographische Fundierung finden. Meiner Meinung nach bedarf der Charakter des Ringträgers vor dem Hintergrund des narrativen Gesamtgefüges keinerlei werkexterne Erklärung. Dennoch ist es nicht auszuschließen, daß die Isolation Frodos die Einsamkeit Edith Tolkiens widerspiegelt, die sich durch ihre Rolle im Haushalt und vor allem durch ihre Konversion zum Katholizismus nachweislich von vielen Bereichen des britischen Gesellschaftslebens ausgeschlossen fühlte. Edith litt besonders unter der kühlen Reaktion ihrer protestantischen Angehörigen, die den Kontakt quasi abbrachen. Wir wissen, daß dieser Konflikt unter den Eheleuten thematisiert wurde. Wenn Tolkien wirklich ein reales Vorbild für einen Außenseiter benötigte, mußte er nicht erst seit seiner hervorragenden akademischen Vernetzung außerhalb der eigenen Erfahrungen suchen. Schicksalsschläge hin oder her. Dem hier versuchten Bild des menschenscheuen Einzelgängers wird Tolkien einfach nicht gerecht.

Wenn überhaupt wäre Frodos Isolation also nicht Johns, sondern Ediths Trauma.

Bearbeitet von Nelkhart
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Vielen Dank, für die durchdachten und interessanten Antworten!

 

>>Es gehört zu den großen Mysteriën der Rezeption lebendiger Phantasiegeschichten, daß sich ihr Verständnis der modernen Psychologie umso gründlicher entzieht, je tiefer diese dort gräbt.<<

Die Kausalität aus Entziehen und Suchen verstehe ich nicht. Offenbar greifst du auf einen etablierten Standard zu, der mir unbekannt ist. Ob du mir einen kurzen Einblick oder Hinweis geben könntest, wie das zu verstehen ist? 

 

>>Ohne die nötige Verve taugen geisteswissenschaftliche Ansätze nicht dazu, die Werke Tolkiens zu erhellen. Ihr grundsätzliches Scheitern hat Tolkien selbst mit seiner höchst allegorischen Turm-Parabel für alle Zeiten entlarvt.<<

Zwei kryptische Satz, die ich gerne auch etwas genauer verstehen wollen würde. Ob du sie noch etwas verdeutlichen könntest, bitte?

Vielen Dank für deine (etwaigen) Mühen im Voraus!

 

 

Offensichtlich bist du mir,was das die Analyse und Interpretation von Literatur angeht, weit voraus und deine Darstellung der medialen Funktion der Hobbits ist nachvollziehbar und wenig verblüffend. Es entwickeln sich mir verschiedene Fragen: Ist denn aber für die mediale Funktion nicht eine Identifikation mit dem Medium erwünscht und notwendig, um den Leser in die Welt und ihre Bezüge zu bekommen? Und ist nicht gerade die hobbitsche Trivialität und Kleingeistigkeit das gleiche Instrument, das Doyle bei Watson einsetzt? 

 

>>Ohne die Vermittlung durch die auënländische Normalität hätte der Autor die superlativen Attribute seiner Fabelwesen nur stumpf behaupten können, ohne unsere Vorstellungskraft anzuregen.<<

Der Leser empfindet die Auenländer doch als normal, weil sie scheinbar den gleichen Gesetzmäßigkeiten unterliegen, wie er selbst und die Welt und die Menschen um ihn herum. Die empathische Brücke funktioniert, weil ich verstehe: "Das könnte ich sein!" Frodos tiefempfundenes Gefühl des Verlustes der Heimat, das er nach dem Verlassen Brees empfindet, berührt uns, weil wir verstehen, dass es traurig ist, seine Heimat zu verlieren. Eine derartige emotionale Reaktion ist eine klare Parallele zwischen Romanheld und Leser.

 

Die emotionale Reaktion des einzelnen Hobbits ist jedes Mal nachvollziehbar, gut begründet. Trauer, Wut, Verzweiflung, Neugier, Stolz. Die Hobbits empfinden, wie wir Menschen es tun. Individuell verschieden, aber verständlich - verstehbar. Insofern wenden wir unser Wissen um die moderne Psychologie längst an. Und natürlich hat das Tolkien wie jeder Autor gewollt. Im Grunde sind die Hobbits menschlicher als die Menschen Mittelerdes, die wesentlich holzschnittartiger, archetypischer daherkommen. Aber das sind ja alles Allgemeinplätze.

 

Wichtig (im Rahmen des Glasperlenspiels) erscheint mir, dass Tolkien, wie jeder andere Mensch auf der Grundlage seiner eigenen Erfahrungen, seines Wissens und den Schlussfolgerungen daraus ein Konzept von den Regeln menschlichen Verhaltens (kognitiv, emotional und auf der Handlungsebene) hatte. Und ich meine dabei nicht soziale Normen, sondern menschliche Logik. Wenn das, dann das usw..

 

Die Grundlage für dieses Konzept sind seine eigenen Erfahrungen (oder auch gerne die von einer empathisch verbundenen Person, wie Edith). Deswegen müssen seine biographischen Besonderheiten relevant sein. Er verfügt nur über die eine Lerngeschichte, aus der er die Welt versteht und interpretiert.

 

Dass Tolkien den Ringkrieg nicht im Zusammenhang mit dem zweiten Weltkrieg gesehen haben wollte, verstehe ich. Es ist aber belanglos. Wir können nicht beschließen, etwas nicht zu fühlen. Sonst gäbe es auch keinen Liebeskummer. Gefühle sind das Resultat von Bewertungen. Der Augenmerk liegt auf BeWERTung. Ich gebe etwas Wert. Es ist wichtig für mich. Ich mache Entscheidungen davon abhängig. Bewusst oder unbewusst. Niemand kann unberührt vom zweiten Weltkrieg und dem Holocaust bleiben. Und die tiefe Verstörung, die Tolkien erlebt hat, ist offenkundig. Dass es im Ringkrieg nur um den zweiten Weltkrieg geht oder dass sich die Relevanz des Buches darauf begrenzt, ist natürlich ebenso falsch. Der Herr der Ringe ist natürlich viel mehr. Aber das habe ich ja auch schon geschrieben.

 

Und ich habe, wie erwähnt, nicht behauptet, dass Tolkien eine Einzelgänger war. Seine Suche nach sozialen Situationen, Gruppen und Beziehungen sowie seine Lehrtätigkeit sind unumstritten. Sie sind das Resultat eine Bedürfnisses nach Bindung und Zugehörigkeitssgefühl, welches seinen Kern in dem großen Verlust haben mag. Meine Hypothese ist: Gerade weil er von seinen Eltern zurückgelassen wurde, suchte er nach Familie. Seine Angst, dabei erfolglos zu bleiben, findet sich in Frodo wieder. Dass Edith bereit war für ihn, den katholischen Waisenknabe, eine ähnliche Verlustsituation zu provozieren, mag ein Beleg für die tiefe Verbundheit der beiden sein. Der tatsächliche Verlust wäre dann aber auch möglicherweise eine Reinszenierung von Johns Verlust innerhalb seiner Familie. Das wäre sytemisch betrachtet wenig verblüffend. Aber da bin ich mir nicht sicher. Das müsste man  nochmal vertiefen.

Bearbeitet von anachronist
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Streng genommen können Fabelwesen keine Individuën sein. Da wir sie über ihre Differenz zum Menschen definieren, ist das Einzelexemplar nie vollständig aus seiner Klasse herauslösbar.
Bei Tolkien findet man kaum richtig eigenständige Charaktere, sondern fast immer nur Repräsentanten.
Über die Persönlichkeit Eärendils, der Lichtgestalt der Quenta Silmarillion, erfahren wir so gut wie überhaupt nichts, denn er tritt nicht als einzelner Held auf, sondern als dynastischer Mix. Ebenso schleppt Aragorn immer die komplette Erblinië seiner 39 königlichen Vorfahren mit sich herum. Und in eben dieser Ahnenbürde schimmern seine seelischen Nöte und Abgründe auf.
Am deutlichsten schlägt sich das Prinzip der Repräsentanz natürlich am Beispiel der neun Ringgefährten nieder.

Aus diesem Grund greift die moderne Psychologie bei den Geschöpfen Tolkiens immer zu kurz. Und entsprechend fruchtlos erscheinen mir Deine Übersetzungen der Beutlins in das explorative Vokabular. Man müßte etwas Neues erfinden. Eine epische Psychologie, die dem Jahrtausende überspannenden Kollektivbewußtsein der Charaktere gerecht wird.

Was die Auënland-Brücke angeht, da sehe ich zwei Ebenen durcheinander gebracht. Ich hätte hier präziser trennen sollen: Die Hobbits eignen sich nicht wegen ihrer Kleinbürgerlichkeit zur Identifikation des Lesers, sondern weil sie so verblüffend modern sind. Daß die Gesellschaft der Halblinge nicht richtig zum Zivilisationsstand der übrigen Mittelerde paßt, wird einem anachronisten natürlich nicht entgangen sein.
Die „Normalität“ der ländlichen Idylle hingegen dient der phantastischen Fallhöhe. Vor ihrem Hintergrund wird Anmutiges anmutiger und Schreckliches schrecklicher.

Abschließend möchte ich bemerken, daß es schon ein bißchen frech ist, Tolkien diverse Agoniën und psychische Krisen zu unterstellen, deren Manifestation aufgrund seiner literarischen Tätigkeit ausgeblieben ist. So könnte man auch behaupten, Tolkien sei nur deshalb kein Alkoholiker, Terrorist oder Seriënkiller geworden, weil er sich als Autor erfolgreich selbst therapiert hat.

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Mit deinen Ausführungen hast du Recht, aber sie verfehlen den Punkt. Ich habe meinen Gedanken vielleicht nicht ausreichend verdeutlicht oder ihn selber zunächst nicht hinreichend begriffen und mich dann von deinen Ausführungen ablenken lassen. Aber ich wende die Psychologie natürlich nicht auf die Hobbits an, sondern auf Tolkien. Die Darstellung von Motivation und Verhaltensweisen der Hobbits lässt Rückschlüsse auf ihren Schöpfer zu. Natürlich hat Tolkien diese nicht gezielt darauf ausgelegt, damit man ihn besser verstehen oder entschlüsseln kann. Das bedeutet aber nicht, dass er nicht umhin kommt, sich dennoch als fühlender Mensch in seinem Werk zu offenbaren, zu entblößen. Die moralischen Standards seiner Protagonisten unterscheiden sich nicht zufällig von denen von Howard. Ehre und Loyalität sind für Tolkien keine leeren Begriffe. 

 

Meiner Auffassung nach stellt Tolkien das Auenland als gesellschaftliches Idealbild dar, das zeitlos, nicht anachronistisch (zeitlich falsch eingeordnet) für das Richtige steht. Es ist weder modern noch rückständig. Herrscherlos, solidarisch, getragen von der Bescheidenheit oder Genügsamkeit seiner Bewohner, die dabei keine gleichgeschalteten Sozialisten sind, die sich nur über das Kollektiv definieren können. Konservativ und etwas betulich, dabei aber nicht übermäßig bigott oder restriktiv. Siehe hierzu meine Signatur.

 

Was Agonien (?) und psychische Krisen angeht, halte ich es für naiv anzunehmen, dass John dem Wohnortwechsel und dem Tod seiner Eltern gleichmütig und entspannt gegenüberstand oder dass er diese Krisen in spielerischer Leichtigkeit restlos bewältigt hat. Ersteres wäre tatsächlich pathologisch, zweites leider ziemlich unrealistisch. Und vor allem vor dem Hintergrund seines literarischen Werkes ist es wenig glaubhaft. Denn hier wimmelt es ja von Elementen, die zweifellos in Zusammenhang mit Johns Erfahrungsschatz gebracht werden können. Lebenseinschnitte dieser Qualität sind hochgradig verunsichernd und entsetzlich für Kinder. Sie formen und prägen die Persönlichkeit und die Wahrnehmung der Welt. Der Betroffene muss sich oft lebenslang damit auseinandersetzen und sucht nach funktionalen Strategien, mit der Erinnerung an das Leid leben zu können. Vielen gelingt das. Vielen anderen leider nicht. Sie suchen dann möglicherweise tatsächlich Entlastung in Aggressivität, Depression oder Substanzmissbrauch.

 

Im Rahmen funktionaler Bewältigungsstrategien ist jede Form von Kreativität gut geeignet und somit auch weitverbreitet in der Arbeit mit traumatisierten Menschen.

 

Charmant aber auch naiv von dir, Tolkien eine übermenschliche Absorptionsfähigkeit zuzubilligen, die ihn vor den Niederungen des Menschseins schützt.Ihn ganz der weise und überlegene Professor sein lässt. Aber warum sollte er sich von seinen Mitmenschen unterscheiden? Er war doch auch nur ein Mensch mit den entsprechenden Grundbedürfnissen.

Bearbeitet von anachronist
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Aber ich wende die Psychologie natürlich nicht auf die Hobbits an, sondern auf Tolkien. Die Darstellung von Motivation und Verhaltensweisen der Hobbits lässt Rückschlüsse auf ihren Schöpfer zu.

 

Diese Ansicht halte ich für ausgesprochen schwierig und gefährlich, sogar arrogant. Tolkien hat einen Roman geschrieben, mehr nicht. Dieser Roman spiegelt weder zwangsläufig Tolkiens Ansichten noch seinen Glauben oder seine psychische Verfassung wider - es ist einfach eine Geschichte. Gehst du genauso vor, wenn du einen Horror-Roman von Stephen King liest? Ich will gar nicht wissen, welche Rückschlüsse du da wohl ziehen magst...

 

Keine Frage, Tolkien hatte eine bewegte Biografie mit vielen Höhen und Tiefen, und diese haben sicher irgendwie einen Niederschlag in seinem literarischen Werk gefunden. Aber um Tolkien selbst zu zitieren: "An author cannot of course remain wholly unaffected by his experience, but the ways in which a story-germ uses the soil of experience are extremely complex, and attempts to define the process are at best guesses from evidence that is inadequate and ambiguous." (LotR, Prologue)

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Also abgesehen davon, dass ich Stephen King nicht lese, würde ich natürlich das Geschriebene mit dem Schreibenden in Zusammenhang setzen. Nichts ist "einfach eine Geschichte". Man kann doch auch die Lebensläufe von bspw. Hemingway oder Bukowski nicht einfach unbeachtet lassen, wenn man sich ihrem literarischen Werk nähert. Ich sehe nicht, was daran arrogant ist. Du selbst sagst, dass die Höhen und Tiefen einen Niederschlag im literarischen Werk finden könnten. Wenn ich mich darum bemühe, diesen Niederschlag herauszuarbeiten, dann versuche ich doch nur, das zu konkretisieren, was du dabei andeutest.

 

Was ich mich aber frage, ist warum die Verknüpfung von Johns und Frodos Lebensläufen solchen Widerstand auslöst. Warum ist es wichtig, den Protagonisten des Hauptwerks vom Autor zu entkoppeln? Entwerte ich ich J.R.R. Tolkien dabei ohne es zu wollen?

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Du entwertest nicht Tolkien, sondern die Geschichte. Denn du deutest etwas von außen hinein, was nicht hineingehört. Nelkhart hat in diesem Zusammenhang zurecht die Turm-Allegorie aus Tolkiens "Beowulf"-Aufsatz erwähnt.

 

Ich frage mich, wieso du überhaupt in Tolkiens Psyche wühlen willst? Ein Psychoanalytiker könnte das nur unter großem Zeitaufwand mit einem lebendigen Tolkien leisten. Anhand eines Romans ist das unmöglich. Wie gesagt, man kann sicher Parallelen aufzeigen zwischen Tolkiens Figuren und ihm selbst. Aber daraus ein Psycho-Profil des Autors erstellen zu wollen ist schlichtweg unmöglich. Wenn du schreibst, Tolkiens

 

"Suche nach sozialen Situationen, Gruppen und Beziehungen sowie seine Lehrtätigkeit sind unumstritten. Sie sind das Resultat eine Bedürfnisses nach Bindung und Zugehörigkeitssgefühl, welches seinen Kern in dem großen Verlust haben mag. Meine Hypothese ist: Gerade weil er von seinen Eltern zurückgelassen wurde, suchte er nach Familie. Seine Angst, dabei erfolglos zu bleiben, findet sich in Frodo wieder."

 

...frage ich mich, wie du solche Behauptungen aufstellen kannst. Niemand kann Aussagen über Tolkiens Ängste machen, niemand kann fundiert belegen, worin seine sozialen Beziehungen ihren psychischen Ursprung haben. Genausogut könnte ich sagen: Tolkiens Schöpfung der Hobbits hat ihren Grund darin, dass er sich selbst klein und unbedeutend fühlte, gerade weil er solchen Erfolg im Leben hatte. Sinnlos, aber wer will mir das Gegenteil beweisen? Was das aber nun mit dem Roman zu tun hat erschließt sich mir nicht...

Bearbeitet von Berenfox
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Ich fürchte, der Punkt, den meine Ausführungen angeblich verfehlen, fesselt mich einfach nicht genug, um dieser Diskussion noch länger wertvolle Beiträge hinzufügen zu können.
So mancher hier tadelt mich schon jetzt für meine werkinternen Spekulationen. Es erscheint mir nicht ratsam, dieses Operationsfeld auch noch auf die Biographie des Autoren auszudehnen. Das Kompensations-Paradigma wird in den Foren ohnehin längst überstrapaziert. Zumindest für meinen Geschmack.

Im Übrigen glaube ich nicht an den determinierenden Charakter von Traumata. Viel mehr halte ich die stets Problematisierungsbedarf witternde Psychologie für den eigentlichen Urheber der meisten Störungen, die sie diagnostiziert. Mit ihrer negativen Erwartungshaltung sensibilisiert sie die Gesellschaft für Defizite und gestaltet somit selbst, was sie nur zu beobachten vorgibt.

Für die Lexik der Werke Tolkiens bedeutet das, daß ich die monokausale Überführung von Ereignissen aus der Kindheit des Professors in Motive im Buch (zumindest aus Gründen der Aufarbeitung) für abwegig halte. Mittelerde wäre um vieles ärmer und begrenzter, wenn es nur zum Zweck der Problembewältigung entstanden wäre. Stattdessen schlagen sich im Werk vor allem die Interessen und Themen nieder, für die sich der Professor begeisterte. Die maßgeblichen Impulse und Inspirationen für die Arbeit am Legendarium scheinen mir einen durchweg positiven Charakter aufzuweisen.

Es ist natürlich nicht von der Hand zu weisen, daß die historische Tiefe Mittelerdes von einem schwer faßbaren melancholischen Ton durchdrungen ist, der noch in der Gegenwart des Herrn der Ringe wahrnehmbar ist. Aber meiner Auffassung nach will Tolkien damit Sehnsüchte und Faszinationen zum Ausdruck bringen, die universell sind. Ich erwarte durchaus Zuspruch, wenn ich behaupte, man muß nicht zwingend beide Eltern im Kindesalter verlieren, um eine Leidenschaft für mythologische Stoffe zu entwickeln.


Tolkiens Schicksalsschläge können also nicht als konstituïerend für sein Werk betrachtet werden.

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Ich erwarte durchaus Zuspruch, wenn ich behaupte, man muß nicht zwingend beide Eltern im Kindesalter verlieren, um eine Leidenschaft für mythologische Stoffe zu entwickeln.

Ach ja, da fühle ich mich wohl angesprochen, da ich mich selbst gerade als ein Mitglied der magischen 3 wiederentdecke.

Mein Beitrag führt ja irgendwie (ungewollt) noch zu anderen Gestaden. Zum Anarchismus der Hobbits. Dazu nur am Rande: *Die Auenländer profitieren zunächst von einer Epidemie, die es den Herrschern Anoriens einfach macht, ihnen das fruchtbare Auenland zu überlassen.* So als Grundlage ihres beschaulichen Lebens ist also für ihr leibliches Wohl gesorgt. Dann wird das Idyll von den Waldläufern bewacht und beschützt. Immerhin besteht das Interesse, den Ring vor feindlichem Zugriff abzuschirmen. All das kommt natürlich dem "anarchistischen" Lebensstiel der nichts ahnenden Hobbits zugute.

Schließlich bildet das Auenland eine souveräne Enklave des Reiches Gondor und steht unter dessen Schutz, was den Hobbits selbst ziemlich egal ist. Sie bekommen davon ja nichts mit. Nur der einsame Frodo ist sich dessen bewusst. Er hat dafür den Preis bezahlt, um das Szenario von Galadriels Spiegel nicht wahr werden zu lassen. (Hier nehme ich jetzt mal den kürzeren Weg des Films).

Tolkien schafft es, dass die Nöte und Probleme der "holzschnittartigen" Menschen nicht in das Auenland eindringen. Nur kurz, am Schluss, als die Waldläufer gen Osten abziehen, um sich dem großen Krieg anzuschließen, bricht schließlich das Unheil über die Bevölkerung herein und treibt die Hobbits aus ihren behaglichen Bauen heraus und zwingt sie in kahle Flachbauten. Das ist die Stunde der Tuk-Linie (Pippin und Merry), die es inzwischen unter ihrer archetypischen Verwandtschaft gelernt hat, mit solchen Unbillen fertig zu werden. Und wieder hat die Normalbevölkerung der Hobbits ihr Glück gekostet.

Man kann sich leicht vorstellen, was die Lebensweise der Auenländer noch Wert ist, wenn sie nicht in eine überbauende Gesellschaft eingebettet wären. Eine Hand wäscht die andere ist hier das Fazit.

So ist das mit dem Herausschälen von Eigenschaften und der Verengung aller anderen Dinge, bei dem der größere Überblick aufgegeben wird. Konzentration kann nützlich sein, ist aber nicht das Maß aller Dinge. Tolkiens Biografie taugt vielleicht dazu, den Blick auf einen groben Hintergrund zu bilden, aber eine Konzentration darauf halte ich, wie schon gesagt, für sinnlos. Was bringt mir das? Im Zusammenspiel mit dem Leser sagt das Werk nur etwas über sich selbst (und dem Leser, der sich auf alle erdenklichen Weisen darauf einlässt) aus. Und darauf kommt es doch an.

P.S.: *Davon abgesehen, dass es Herrscher von Arthedain heißen müsste, stimmt das so nicht von der Zeitrechnung her. Ich gehe aber davon aus, dass Tolkien es noch viel geschickter geregelt hat, die Hobbits ohne offensichtliche Widrigkeiten in das fruchtbare Auenland und unter eine Schutzmacht zu buxieren, wo sie ihre Lebensweise kultivieren konnten. * Genau will ich's allerdings gar nicht wissen. Wahrscheinlich passt es einfach.

Bearbeitet von Arien
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