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Einhundert Jahre Mittelerde


Berenfox

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Am 24. September 1914, heute vor genau einhundert Jahren, schrieb J.R.R. Tolkien das Gedicht The Voyage of Éarendel the Evening Star. Im späten September 1914 weilte J.R.R. Tolkien auf der Phoenix Farm bei seiner Tante Jane Neave. Zuvor hatte er im mittelalterlichen Exeter Book eine Sammlung von Gedichten unter dem Titel Crist gelesen. Diese Gedichtsammlung gehört neben dem Beowulf zu den wichtigsten Überbleibseln angelsächsischer Literatur. In einem der von Cynewulf verfassten Gedichte war Tolkien auf einen Vers gestoßen, der ihn nicht losließ:

 

Eala Earendel engla beorhtast

ofer middangeard monnum sended“

 

(Hail Earendel, brightest of angels, / above the middle-earth sent unto men)

(Heil Earendel, strahlendster der Engel, / über der mittleren Erde den Menschen gesandt)

 

Tolkien, so kann man in Humphrey Carpenters Biografie nachlesen, schrieb später: „Ich spürte einen merkwürdigen Schauder, als hätte sich etwas in mir geregt und wäre halb aus dem Schlaf erwacht. Etwas sehr Fernes, Fremdes und Schönes lag hinter diesen Worten, wenn ich es nur greifen konnte, weit hinter dem Altenglischen." Auf den ersten Blick mag man glauben, dass es der Begriff "middangeard / middle-earth" gewesen sein muss, der Tolkien so tief berührt hat. Überraschenderweise ist dem nicht so. Vielmehr war es das Wort "Earendel", das eine solche Faszination auf ihn ausübte. Im Angelsächsischen wird „éarendel“ mit „Lichtschein, Strahl“ erklärt, doch Tolkien war der Ansicht, an dieser Stelle besäße das Wort eine besondere Bedeutung. Er glaubte, „Earendel“ sei ursprünglich ein Name gewesen:

 

“Als ich A[ngelsächsisch] zum erstenmal fachgemäß studierte […], fiel mit die große Schönheit dieses Wortes (oder Namens) auf, das ganz und gar im normalen Stil des a[ngelsächsischen] aufgeht, aber in dieser gefälligen, doch nicht „einschmeichelnden“ Sprache bis zu einem ungewöhnlichen Grade wohlklingend ist. Außerdem deutet die Form stark darauf hin, daß es ursprünglich ein Eigenname und kein gewöhnliches Substantiv ist. Dies wird bestätigt durch die offenbar verwandten Formen in anderen germanischen Sprachen, aus denen bei allen Verwechslungen und Entstellungen späterer Überlieferungen zumindest soviel sicher hervorzugehen scheint, daß es zu einem astronomischen Mythos gehörte und der Name eines Sterns oder einer Sternengruppe war. Nach meiner Auffassung scheinen die a[ngelsächsischen] Belege klar zu besagen, daß es ein Stern war, der die Morgendämmerung ankündigte (jedenfalls in der englischen Überlieferung), das heißt, der, den wir heute Venus nennen: der Morgenstern [oder manchmal auch Abendstern], wie man ihn hell leuchtend in der Frühe, kurz vor Sonnenaufgang sehen kann. So jedenfalls habe ich es verstanden. Vor 1914 schrieb ich ein „Gedicht“ über Earendel, der mit seinem Schiff wie ein blitzender Funke aus dem Hafen der Sonne auslief. Ich adoptierte ihn für meine Mythologie – in der er zum Urbild eines Seefahrers und schließlich zum Botenstern, zum Hoffnungszeichen für die Menschen wurde.“ (Briefe, S. 502)

 

Inspiriert von dem ersten, vagen Eindruck, den der Vers aus dem Crist auf ihn gemacht hatte, versuchte Tolkien seine Ahnungen zu greifen und goss sie in Form des Gedichts The Voyage of Éarendel the Evening Star. Kurze Zeit später, im Herbst oder Winter 1914, zeigte er dieses Gedicht seinem Freund G. B. Smith. Dieser sagte, dass es ihm gefiele und fragte, worum es darin eigentlich gehe. Tolkien antwortete mit dem Eingeständnis: „Ich weiß nicht, will sehen, daß ich es herausfinde.“ Wie wir wissen, verbrachte er den Rest seines Lebens damit. Aus dem Keim dieses Gedichts erwuchs schließlich sein „Silmarillion“, sein "middle-earth", und tatsächlich, so möchte ich Tolkiens eigene Worte korrigieren, „adoptierte“ er Earendel nicht bloß für seine Mythologie: Earendel war vielmehr der Urfunke, an dem sich seine Mythologie entzündete. Einmal mehr wird an diesem außergewöhnlichen Ereignis deutlich, was Tolkien meinte, als er sagte, dass Worte und Namen den Keim seiner Geschichten bilden würden, und dass er sich nicht als Erfinder seiner Geschichten, sondern als Entdecker verstehe. Earendil wurde schließlich zur Schlüsselfigur im „Silmarillion“, die ihren Schatten (oder besser: ihr Licht) auch in den „Herrn der Ringe“ warf.

 

Heute vor einhundert Jahren jedenfalls wurde dieser Funke entzündet, wurde dieser Keim gelegt – in Form eines Gedichtes, das ihr hier nachlesen könnt:

Bearbeitet von Berenfox
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John Garth, der Autor des erst vor Kurzem ins Deutsche übersetzten Buches "Tolkien and the Great War", hat anlässlich dieses Jubiläums zwei lesenswerte Artikel verfasst. Der erste wurde im Guardian abgedruckt, der zweite in seinem Blog veröffentlicht.

 

Der zweite Artikel ist insofern interessant, als er den Bogen zu Tolkiens "Notion Club Papers" zieht. Dort thematisiert eine Figur namens Alwin Arundel Lowdham genau die Zeilen aus dem Crist, die Tolkien so fasziniert haben. Interessanterweise ist nicht nur Lowdhams zweiter Vorname Arundel eine abgewandelte Form von Earendel, vielmehr hat John Garth durch einen zufälligen Fingerzeig seiner Mutter herausgefunden, dass nur einen Sonntagsspaziergang von der Phoenix Farm entfernt (auf der Tolkien das oben besprochene Gedicht geschrieben hat), ein Ort namens Lowdham liegt. Hier kumuliert offenbar sein ganzes Earendel-Erlebnis.

 

Die Karte kann man hier sehen: Die Phoenix Farm gehört zum Dorf Gedling unten links, oben rechts findet sich der Ort Lowdham.

 

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Bearbeitet von Berenfox
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Gerade wurde ich von dem Gedanken erschlagen, dass es noch weitere 40 Jahre sind bis zum 100-jährigen Jubiläum des "Herrn der Ringe"; dass es noch 59 Jahre bis zu seinem Tod sind. Was für eine unfassbare Arbeit hat dieser Mann in sein Lebenswerk gesteckt - und es doch nicht vollendet!

 

Entschuldigt den Tripelpost, aber dieses Jubiläum bringt mir so viele Dinge plötzlich so nahe...

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Entschuldigt den Tripelpost, aber dieses Jubiläum bringt mir so viele Dinge plötzlich so nahe...

 

Da gibt es nichts zu entschuldigen :-) . Vielen lieben Dank Berenfox für die Erinnerung an dieses wichtige Ereignis. Schön lesend ein bißchen Zeit mit Tolkiens "Erweckungserlebnis" verbringen zu dürfen: ein wunderschönes Gedicht :-) .

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