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Die Funktion der Mythologie Tolkiens


Underworld

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vor 8 Stunden schrieb Nelkhart:

Allerdings habe ich mit dem Schild am Eingang gewisse Schwierigkeiten. Der sehr technische Begriff der „Funktion“ im Thread-Titel fragt an Tolkiens eigener Absicht vorbei, nach einem objektiven Zweck.

In meinen Augen eben gerade nicht.

Darum schrieb ich ja, als Begründung für diesen Titel:

Zitat

 

Ich selber würde als Thema für unsere Diskussion "Die Funktion der Mythologie Tolkiens" vorschlagen.

Ich glaube, da wäre dann alles drin, was wir an Überlegungen aufgeworfen haben: sowohl die Fragen, wie Tolkien selber seine Mythologie behandelt hat als auch die Fragen, wie diese Mythologie auf die Rezipienten - also die Leser - gewirkt hat und wirkt.

 

Der Begriff "Funktion" ist für mich so ziemlich das Gegenteil von "objektivem Zweck".

 

vor 8 Stunden schrieb Nelkhart:

Der Ansatz schließt die nicht unwahrscheinliche Möglichkeit von vorn herein aus, daß Mythologie bei Tolkien gar keine Funktion hat.

Alles und jedes hat eine Funktion. Alles andere ist menschenunmöglich, lebensunmöglich. Alles ist eingebunden in eine Netz von Beziehungen. 

Und gerade Tolkien hat doch nun jahrzehntelang über die Funktion seiner Mythologie geschrieben. 

Aber auch wenn nicht: kein Mensch, kein Gott, kein Elb, kein Ainu kann auch nur einen Schritt tun oder einen Gedanken haben, der nicht funktional ist, eingewebt ist in alles, was ist;

also sowohl kreiert worden ist als auch selber kreiiert.

 

vor 8 Stunden schrieb Nelkhart:

Aber natürlich könnte der Professor – seinem Märchenaufsatz gemäß – auch ganz simpel dem Wunsch gefolgt sein, eine märchenhafte Dichtung hervorzubringen. Einfach nur, damit sie sei.

Wenn das der Fall gewesen wäre - oder ist -, dann wäre das eben die Funktion gewesen.

Allerdings: nur damit sie sei - das ist wiederum menschenunmöglich. Denn alles, was ist, muss notgedrungen um einer Funtkon willen ins Sein gesetzt worden sein.

In der Ainulindale lässt Tolkien seinen Eru - sinngemäß sagen: er brauche solche, die mit ihm sind. Denen er etwas beibringt, die mit ihm gemeinsam singen. 

 

vor 8 Stunden schrieb Nelkhart:

Der Begriff der Funktion ist untrennbar verbunden mit dem Funktionalismus und der späteren Systemtheorie.

Aber nein.

Ich komme da von der Musik her, der Komposition. Ein Motiv hat im Werk eine Funktion. Das ist uralte Harmonielehre.

Und im Theater hat jeder Stuhl und jede Figur eine Funktion innerhalb der Gesamtgestaltung. 

 

vor 8 Stunden schrieb Nelkhart:

Aber Tolkiens Meinung scheint hier ja, wie eingangs bemerkt, gar nicht zu interessieren.

Du kennst so wenig wie ich die "Meinung Tolkiens".

Ich halte es für ehrlicher, das einzugestehen, als die eigene Meinung als Tolkiens Meinung auszugeben. 

Darum lehnt die Literaturwissenschaft es inzwischen ab - und hat es auch nach der Nazizeit schon einmal abgelehnt -, die Meinung eines Autors  zu behaupten und diese dann eventuell sogar noch zu instrumentalisieren.

Ein Autor ist nicht erfassbar. Kein Mensch ist erfassbar. Man darf sich an beiden nicht vergreifen.

Wohl aber kann er eine Funktion für uns haben. Mit Systemtheorie hat das überhaupt nichts zu tun. 

Und der Autor selber kann - ohne dass er erst zum Psychotherapeuten gehen muss, damit er seine innersten Intentionen erkennt - davon sprechen, welche Funktion das Schreiben für ihn hat, als Beispiel. 

Und selbst der Therapeut kann die innersten Intentionen eines anderen Menschen nicht herausfinden.

Gott sei Dank kann das niemand. Dadurch ist der Mensch davor geschützt, von anderen vereinnahmt zu werden.

Die Rezeptionstheorie aber lässt es zu, dass wir alle an dem Verstehen des Werkes eines Autoren weiterarbeiten, es weiter entwickeln.

Und dann erst wird es interessant, und man muss sich nicht in die Haare kriegen, wenn man sammelt, was jeder Tolkienfreund an Tolkien weiterentwickelt hat. 

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vor 6 Stunden schrieb Alsa:

Und selbst der Therapeut kann die innersten Intentionen eines anderen Menschen nicht herausfinden.

Gott sei Dank kann das niemand. Dadurch ist der Mensch davor geschützt, von anderen vereinnahmt zu werden.

Ich glaube, ich sollte mich mal ein bißchen mit diesem Thread beschäftigen. Ihr diskutiert hier ein paar interessante Dinge:-).

Das ist eine sehr gewagte These (Hervorhebung von mir). Ich habe eher den Eindruck, das Menschen ständig vereinnahmt werden. In Kunst, Literatur und Musik genauso wie in anderen Lebensentwürfen.

vor 6 Stunden schrieb Alsa:

Allerdings: nur damit sie sei - das ist wiederum menschenunmöglich. Denn alles, was ist, muss notgedrungen um einer Funtkon willen ins Sein gesetzt worden sein.

Es ist schade, das ich gerade echt wenig Zeit habe. Auch das halte ich für eine gewagte These. Mir fällt da gerade Michael Ende ein, und seine Gedanken über die absichtslose Kunst. Kunst um ihrer selbst willen geschaffen. Das scheint mir der Funktion zu wiedersprechen. Aber vielleicht verstehe ich auch deinen 'Funktions'- Begriff nicht.

Ich habe jetzt mal geantwortet, weil z.B. diese beiden Punkte meinen inneren Wiederspruch geweckt haben. Das ging mir in diesem Thread schon öfter so. Also bitte nicht böse sein, das ich mich in meiner Unbedarftheit (vielleicht auch Unwissenheit) hier reingehängt habe:-).

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Am 10.9.2018 um 15:17 schrieb Nelkhart:

Die unmißverständlich Macht-skeptische Ethik Tolkiens, steht allerdings einem völlig amoralischen Schöpfer Eru Ilúvatar gegenüber,

 

Am 10.9.2018 um 16:08 schrieb Alsa:

Das freut mich außerordentlich, dass Du das so siehst.

Ich möchte bitte mal nachfragen: Wie paßt eine Figur wie 'Aragorn' da hinein? Er bzw der König von Gondor hat ein bißchen was vom Gralskönigstum eines König Arthur. Also im Kern moralisch und positiv besetzt, auch in Bezug auf Machtausübung.

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Wieso hängt da dieses Schild um des Professors Haupt: Gedanken lesen verboten.
Gottes Existenz ist nicht beweisbar. Willst Du deshalb den Menschen verbieten, nach ihm zu suchen? Daran anknüpfend meine ich, daß Tolkiens Absichten „zu behaupten“ und nach ihnen zu fragen, zwei sehr verschiedene Dinge sind. Unabhängig von der aktuëllen, literaturwissenschaftlichen Mode werden die Gedanken eines Autors das Publikum immer interessieren – selbst wenn sie diese vielleicht niemals ergründen können.

In Deiner Antwort schmeißt Du mit subjektiven Axiomen nur so um Dich:
„Denn alles, was ist, muss notgedrungen um einer Funktion willen ins Sein gesetzt worden sein.“
Dieser recht dogmatische Satz legt die Vermutung nahe, daß hier jemand so tief in seiner Lieblingswahrnehmung steckt, daß er nicht mehr sieht, daß es nur ein Modus unter vielen ist.
Was ist die Funktion des Universums? Was ist die Funktion des Lebens? Was ist die Funktion des Seins? Manche Objekte sind zu groß für die Brille, aber durch sie wird uns wenigstens die Brille bewußt. Betrachtet man Tolkien und seine Schöpfung, ist das keineswegs zu abstrakt gefragt.

Was ist die Funktion von Freiheit? Was ist die Funktion von Glück? Torshavn bringt zu Recht noch die Kunst ins Spiel. Manche Dinge sind offenbar nicht auf eine Rolle in Kausalzusammenhängen angewiesen, um sich zu legitimieren. Sie sind einfach und kümmern sich nicht, um rationale Daseinsberechtigungen.
Aber wo das mechanische Prinzip der Funktion herrscht, muß eben alles einen Zweck haben. Es lebe die Theorie, die alles durch dessen Nützlichkeit klassifiziert. Lieber eine absurde Funktion als gar keine!
Ich fürchte, hier gilt die Eleganz des Modells mehr, als das, was es beschreiben soll. Selbst den Selbstzweck einer Funktion unterzuordnen, ist ein perfides Mittel, um davon abzulenken, daß Selbstzwecke das ganze funktionale Konzept in Frage stellen. Meiner Meinung nach lebt der Funktionalismus vom Ordnungsbedürfnis seiner Anwender. Nicht umsonst ziehst Du Beispiele aus der Musik heran und schreibst von Harmonie. Du willst in Funktionen denken. Das darfst Du natürlich auch. Aber die Menschen sind nicht nur Ratio, sie sind auch Chaos, Spiel und Zufall. Und auch wenn man diesen Kategoriën mit Gewalt Funktionen überstülpen kann – sie brauchen sie nicht.


Meine Güte! Jetzt müssen wir schon wieder die Moderation bemühen und den Namen des Threads ändern lassen. Mein Vorschlag: „Der Funktionsbegriff und seine begrenzte Anwendbarkeit bei Tolkien“


 

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vor 1 Stunde schrieb Nelkhart:

Meine Güte! Jetzt müssen wir schon wieder die Moderation bemühen und den Namen des Threads ändern lassen. Mein Vorschlag: „Der Funktionsbegriff und seine begrenzte Anwendbarkeit bei Tolkien“

Womit Du ja dein Ziel, eine Änderung des Threadtitels erreicht hättest. ?

Dennoch wäre ich mit der Änderung des Threadnamens nicht zu voreilig. Hier gibt es großes Potential.

vor 19 Stunden schrieb Alsa:

Ein Autor ist nicht erfassbar. 

Das ist aber die Sicht einer alten Minderheit in der Literaturtheorie. Ich glaube, wenn hier ein Konsens gefunden werden soll, müssten wir die durchaus bekannte Frage "Que'ce qu'un auteur?" (Was ist ein Autor?) klären. Denn wenn du behauptest, dass der Autor nicht fassbar sei, wie kannst du dann seinem Werk oder Elementen seines Werkes Funktionem zusprechen? 

Die Instanz "Autor" ist ja zentral in der Diskussion gerade. Es geht also jetzt darum, ob diese Instanz seinen Text bewusst mit Inhalten und Potential ausgestattet hat, die Funktionen erfüllen. In diesem Fall geht es um die Frage, ob Tolkien beim Schreiben ein Ziel hatte und uns Lesern (s)ein fertiges Produkt (auch wenn sein Entwurf "Arda" o.Ä. noch nicht fertig abgeschlossen war) vorlegte. In diesem Fall können wir davon ausgehen, dass wir unter anderem in der Mythologie eine Funktion haben, die eben für dieses Ziel genutzt wurde. In diesem Fall haben wir aber über dem Text einen Autor, an dem und an dessen Ansichten, Ziele, Motivationen, Bezüge usw. wir unweigerlich vorbei müssen, wenn wir uns dem Text widmen. In diesem Fall hätten wir allerdings auch einen Autor, den man (durch längeres Studieren, Auskennen, Anwenden eines theoretischen Instrumentariums usw.) deuten kann, den man erfassen kann.

Eine andere Form wäre der von Barthes vorlegte Autor, der den Prozess des Schreibens aufnimmt, aber die Feder quasi an den Leser weitergibt in dem Sinne, dass wir "schreibend lesen" können. Das bedeutet, dass der Autor von vorneherein einen Teil seiner Macht/Autorität (lat. auctor) an den Leser abgibt, also auch kein klares Ziel verfolgt, Denkvorschläge macht, einen Zugang schafft. Zumindest verstehe ich Barthes so. In diesem Fall können wir aber den Autor nicht wirklich erfassen, weil wir vom Text nicht direkt auf ihn schließen können, da er ja nicht die einzige Quelle des Textes ist. Aber auch das passt nicht so ganz zu deiner Ansicht, da wir auch hier keine Schlüsse oder Möglichkeiten haben, bestimmte Elemente aus dem Text zu nehmen und ihnen bestimmte Funktionen zuzuordnen.

Aber vielleicht habe ich dein Verständnis vom Autor auch falsch gedeutet Alsa. Deswegen lasst uns aber vielleicht trotzdem die Instanz des Autors klären, um uns von dort aus dem Kern unserer Diskussion zu nähern (ich bin da ganz bei Torshavn und finde die Diskuss unheimlich anregend).

 

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vor 14 Stunden schrieb Torshavn:

Ich habe eher den Eindruck, das Menschen ständig vereinnahmt werden. In Kunst, Literatur und Musik genauso wie in anderen Lebensentwürfen.

Ja, natürlich. Aber das Verbot, einen Menschen zu ermorden, schützt dennoch den Menschen, selbst wenn ständig gemordet wird.

"Mord" gilt eben als menschenverachtend, und das ist schon viel. 

Genauso ist es schon viel, wenn man erkennt, wie man mit Autoren nicht umgehen sollte. Nämlich: sie nicht für eigene Zwecke  zu instrumentalisieren. 

 

vor 14 Stunden schrieb Torshavn:

Es ist schade, das ich gerade echt wenig Zeit habe. Auch das halte ich für eine gewagte These. Mir fällt da gerade Michael Ende ein, und seine Gedanken über die absichtslose Kunst. Kunst um ihrer selbst willen geschaffen. Das scheint mir der Funktion zu wiedersprechen. Aber vielleicht verstehe ich auch deinen 'Funktions'- Begriff nicht.

Nein, das widerspricht tatsächlich dem Funktions-Begriff nicht. 

Michael Ende hat in seiner "Unendlichen Geschichte" der Hauptfigur Bastian die Funktion gegeben, das Phantasie-Reich zu retten, indem er, Bastian, das Phantasiereich betritt.

In seinem  Werk "Momo" hat er auf ähnliche Weise der Momo die Funktion gegeben, die Phantasie wiederbeleben zu lassen. 

Allerdings: unter "absichtsloser Kunst" kann ich mir nichts vorstellen. 

Ich habe es mal versucht und ein Stück "Literatur" versucht, ganz ohne Absicht zu erzeugen. Habe ein Buch blind aufgeschlagen, blind mit meinem Finger irgendwohin getippt und dann die Augen aufgemacht. Das Wort, auf dem mein Finger lag, habe ich rausgeschrieben.

Und das habe ich etliche Male wiederholt  und die so gefundenen Wörter in ihrer zufälligen Reihenfolge für "Kunst" erklärt.  Das wäre dann absichtslose Kunst - es sei denn, man glaubt, Gott leite den Zufall. Dann steuert Gott das Entstehen von Kunst.

Sende ich den so gefundenen Text zu einer Zeitung, und die veröffentlichen das, weil das ja tolle moderne Kunst sei, dann sehen die Redakeure in dem Text irgendeinen Sinn. Und damit die Funktion, Leser dafür zu interessieren. 

Das ist bei der Klecksographie auch so. Man kleckst Tinte auf ein Papier, knickt das Papier und rubbelt darüber.

Was man dann nach Entfalten des Papieres sieht, sieht fast immer aus wie eine komische Figur. Psychologen können aus dem, was die Patienten in so einer Klecksographie erkennen können, etwas über den Patienten erfahren. 

Darum sagte ich:

Wir Menschen haben nicht die Möglichkeit, irgendetwas nicht zu einer Funktion zu machen. 

Selbst wenn man einen Farbbeutel auf eine Leinwand spritzt und in dem Ergebnis null Sinn sehen kann:

man reagiert emotional darauf. Findet es entweder ästhetisch oder sieht ein Abbild des eigenen wirren Inneren darin oder sonst was. Aber auf jeden Fall nicht nichts.

Bitte Widerspruch, wenn ihr das anders erlebt. 

 

vor 14 Stunden schrieb Torshavn:

Ich habe jetzt mal geantwortet, weil z.B. diese beiden Punkte meinen inneren Wiederspruch geweckt haben. Das ging mir in diesem Thread schon öfter so. Also bitte nicht böse sein, das ich mich in meiner Unbedarftheit (vielleicht auch Unwissenheit) hier reingehängt habe:-).

Ich freue mich sehr, dass Du Dich mit reingehängt hast. Das hilft ja auch uns allen, sich selber zu hinterfragen, präziser zu werden etc. 

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vor 6 Stunden schrieb Nelkhart:

Aber wo das mechanische Prinzip der Funktion herrscht, muß eben alles einen Zweck haben.

Das kann sein. Nur dass mein ganzes Schreiben darauf hinausläuft, dass ich dieses mechanische Prinzip ablehne.

Das kannst Du aber nicht verstehen - so sehr ich mir auch Mühe gegeben habe -, weil Du nicht auf den Sinn achtest, sondern nur auf bestimmte Reizbegriffe.

Insofern laufen alle Deine Schimpfereien an mir vorbei - sie haben nichts mit mir zu tun. Ich werde darauf nicht mehr eingehen. 

 

 

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Am 14.12.2018 um 20:30 schrieb Roncalon:

"Ein Autor ist nicht erfassbar."

Das ist aber die Sicht einer alten Minderheit in der Literaturtheorie.

Nein, ganz im Gegenteil. 

Die Auffassung, dass der Autor erfassbar ist, galt in der Zeit des literaturwissenschaftlichen Positivismus - vor allem im späten 19, Jahrhundert. Zum Beispiel kann man dies hier nachlesen:

http://www.einladung-zur-literaturwissenschaft.de/index.php?option=com_content&view=article&id=436:9-1-positivismus&catid=46:kapitel-9

Kurz zusammengefasst:

Der literaturwissenschaftliche Positivismus ist naturwissenschaftlich orientiert und hat unter anderem die heute oft "Biographismus" genannte Methode angewandt. Sie leugnet, dass der Mensch mehr ist als ein Bündel von Fakten, die man mittels der Naturwissenschaft feststellen kann.

Ich selber glaube, dass diejenigen unter den Tolkienfans, die aus Tolkiens Werk eine Art Weltenbau herauskristallisieren, in der Tradition dieses Positivismus stehen, möglicherweise unwissentlich.

Der Weltenbau ist in meinen Augen eher naturwissenschaftlich orientiert, die Literaturwissenschaft heute lehnt das meiner Kenntnis nach im Rahmen der literaturwissenschaftlichen Interpretation strikt ab. Das ist Schnee von gestern. Heute haben wir ein anderes Menschenbild - obwohl ich zugeben muss, was mir auch Angst macht, dass bestimmte Neurologen und Gehirnforscher sich in der Zukunft gerne die Menschen mittels Operationen am Gehirn selber herstellen wollen.

Dagegen hat Tolkien angekämpft, und dagegen kämpfe auch ich an.

Aber noch sind wir nicht so weit, den Menschen maschinell aufzufassen; die Literaturwissenschaft tut das ganz gewiss nicht.

Der Weltenbau als Spiel ist sicher spannend - gefährlich wird es nur, wenn man Tolkien unterstellt, er selber habe dieses Spiel gespielt, und seine Werke seien daraus entstanden.

Vor allem in Tolkiens "Mythopoeia" finden wir ausführlich erläutert, welche Gefahr die naturwissenschaftliche Sicht, wenn sie ideologisch wird, für die Menschheit bedeutet. Das sehe ich ebenfalls genauso. Seine Werke sind nicht nach naturwissenschaftlicher Auffassung komponiert, sondern in geisteswissenschaftlicher oder künstlerischer Methodik. 

 

Am 14.12.2018 um 20:30 schrieb Roncalon:

Ich glaube, wenn hier ein Konsens gefunden werden soll, müssten wir die durchaus bekannte Frage "Que'ce qu'un auteur?" (Was ist ein Autor?) klären. Denn wenn du behauptest, dass der Autor nicht fassbar sei, wie kannst du dann seinem Werk oder Elementen seines Werkes Funktionem zusprechen? 

Ehrlich gesagt, verstehe ich die Frage jetzt nicht wirklich.

Nehmen wir Mozart. Jeder Musikwissenschaftler, der Mozarts Kompositionsstil untersucht und beschreibt, wird doch deswegen nicht behaupten können, Mozart - als Mensch - sei nun für ihn als Ganzes erfassbar. 

Das Genie Mozart ist bis heute ein Rätsel. Trotzdem gibt es Abertausende von Musikinterpretationen seiner Werke. 

Die Methode der Analyse wird auf jedes musikalische Werk angewandt. Mozart selber hat ja nach den Methoden komponiert, die andere dann enträtseln. 

Aber der Mensch Mozart - als Mensch - ist dennoch unangreifbar. Das haben wir sogar im Grundgesetz stehen. 

Ich gehe noch mal rasch zu einem anderen Komponisten, weil wir in diesem Forum darüber einen Thread haben: zu Richard Wagner. 

In Richard Wagners Schriften ist Antisemitismus nachgewiesen, und zwar ziemlich krasser. Wie kann es sein, dass sein Werk heute noch immer boomt? Weil sein WERK nicht antisemitisch ist. Werk und die dahinterstehende Person sind nicht identisch. 

Wenn irgendwer, dann ist Richard Wagner ein Beleg dafür, dass Mensch und Werk getrennt betrachtet werden müssen. 

Wenn ich immer sage, dass ein Werk funktional untersucht werden muss, dann meine ich damit:

ich vergleiche zum Beispiel die Figuren im "Herr der Ringe" miteinander. Welche Funkton hat Gandalf in  diesem Werk, welche Gollum usw. 

Tolkien hat immer  wieder das Figurenarsenal während des Schreibens geändert. Das heißt, er hat sich gründlich Gedanken darüber gemacht, welche Person er brauchen kann und welche nicht. Und wofür er sie brauchen kann. 

Mit anderen Worten: Er hat sich sein Kompositionsprinzip klargemacht.

Bezüglich "Herr der Ringe" finden wir in der HoMe jede Menge Material darüber. Und sein Sohn Christopher hat diese Kompositionsmethoden und dessen ständige Änderungen äußerst detailliert beschrieben.

 

Am 14.12.2018 um 20:30 schrieb Roncalon:

Die Instanz "Autor" ist ja zentral in der Diskussion gerade. Es geht also jetzt darum, ob diese Instanz seinen Text bewusst mit Inhalten und Potential ausgestattet hat, die Funktionen erfüllen.

Könntest Du da einen Link oder einen Titel bringen? Mir ist nicht bekannt, worauf Du Dich beziehst. 

 

Am 14.12.2018 um 20:30 schrieb Roncalon:

In diesem Fall geht es um die Frage, ob Tolkien beim Schreiben ein Ziel hatte und uns Lesern (s)ein fertiges Produkt (auch wenn sein Entwurf "Arda" o.Ä. noch nicht fertig abgeschlossen war) vorlegte.

In der HoMe finden wir in dem Punkt ausreichend Belege. Das sind ja mehrere Bände, die den Entstehungsprozess des "Herrn der Ringe" sehr detailliert nachzeichnen.

Für den "Hobbit" hat Ähnliches John D. Rateliff in seinem "The History of the Hobbit" erarbeitet.

Natürlich sind das keine Bücher, die in Tolkiens Innrere gleuchtet haben; es wurden Tolkiens Papiere und mündliche Erklärungen ausgewertet. 

Ob Tolkien anderes dachte, als er sagte oder schrieb: das wissen wir nicht. Das heutige Menschenbild geht nicht davon aus, dass der Mensch durch und durch rational ist. Irgendwann sagte mal wer: Das Bewusstsein sei nur die Spitze des Eisberges - der unter Wasser liege und noch unerforscht sei. Davon gehe auch ich aus. 

 

Am 14.12.2018 um 20:30 schrieb Roncalon:

In diesem Fall können wir davon ausgehen, dass wir unter anderem in der Mythologie eine Funktion haben, die eben für dieses Ziel genutzt wurde. In diesem Fall haben wir aber über dem Text einen Autor, an dem und an dessen Ansichten, Ziele, Motivationen, Bezüge usw. wir unweigerlich vorbei müssen, wenn wir uns dem Text widmen.

Wieso "unweigerlich"? Wer befiehlt das? Welcher Literaturwissenschaftler würde Befehle entgegennehmen, die er als überflüssig empfindet? 

Wer das erzwingen will, ist von der Naturwissenschaft "gebissen",  sieht sie als den obersten Herrn an. :-)

Muss ich also - Deiner Meinung nach - erst Richard Wagners Briefe lesen, bevor es mir erlaubt ist, "den Ring des Nibelungen" auf der Basis  seines musikalischen Materials zu untersuchen?

 

Am 14.12.2018 um 20:30 schrieb Roncalon:

In diesem Fall hätten wir allerdings auch einen Autor, den man (durch längeres Studieren, Auskennen, Anwenden eines theoretischen Instrumentariums usw.) deuten kann, den man erfassen kann.

Also gut, Du scheinst wirklich zu glauben, dass jemand das rätselhafte Wesen Mensch, hier Tolkien, enträtseln kann.

Das wird aber kaum einer annehmen, der alt geworden ist und noch im hohen Alter nicht weiß, wer genau seine Ehefrau ist.

Ich habe das an zwei Ehepaaren aus meiner Verwandtschaft beobachten können. Sie liebten sich noch mit 90, respektierten einander; aber verstehen konnten sie einander nicht. Einander vertrauen, ja. Verstehen, nein. 

Irgendwann schrieb mal jemand: Kein Abgrund ist tiefer als der zwischen Mensch und Mensch.

 

Am 14.12.2018 um 20:30 schrieb Roncalon:

Eine andere Form wäre der von Barthes vorlegte Autor, der den Prozess des Schreibens aufnimmt, aber die Feder quasi an den Leser weitergibt in dem Sinne, dass wir "schreibend lesen" können. Das bedeutet, dass der Autor von vorneherein einen Teil seiner Macht/Autorität (lat. auctor) an den Leser abgibt, also auch kein klares Ziel verfolgt, Denkvorschläge macht, einen Zugang schafft.

Jedes Werk  wird vom Leser beim Lesen unbewusst verändert.

Das, denke ich, ist der heutige Standard in der Literaturwissenschaft.

Uneins ist man sich nur darin, ob man überhaupt zumindest im Ansatz das Werk so verstehen kann, wie es vom Autor verfasst wurde, oder ob quasi der Leser der Verfasser ist.

Ich selber denke, dass es eine Mischung sein kann, wenn man sich die Mühe macht, das Werk - das Werk! nicht den Autor -, zu analysieren. 

 

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Am 14.12.2018 um 08:48 schrieb Torshavn:

Ich möchte bitte mal nachfragen: Wie paßt eine Figur wie 'Aragorn' da hinein? Er bzw der König von Gondor hat ein bißchen was vom Gralskönigstum eines König Arthur. Also im Kern moralisch und positiv besetzt, auch in Bezug auf Machtausübung.

Vielleicht:

Wer entscheidet, ob ein Gralskönigstum positiv oder negativ "besetzt" ist? 

Das kann nur der jeweilige Leser für sich entscheiden. 

Ich selber würde das nicht entscheiden können, ohne die literarische Bedeutung der einzelnen Figuren und die der pseudo-mythischen Zeit, die Tolkien gewählt hat, aus dem Gesamtzusammenhang des Werkes herauszukristallisieren. 

Innerhalb des Werkes ist die Zeit der Krönung Aragorns archaisch. Schon für die Hobbits ist das archaisch.

Nach meinem Dafürhalten begegnen die Hobbits des Auenlandes also selber einer archaischen Zeit. Aragorn ist doppelt sozusagen: als Streicher lebt er in der Zeit des Auenlandes, als Aragorn ist er Figur einer uralten Zeit. 

Dieses Spiel mit verschiedenen Zeiten ist seit der Romantik ein beliebtes Kunstmittel. Auch Michael Ende benutzt es. In der "Unendlichen Geschichte" gerät Bastian in die Welt der Phantasie, in der es Prinzessinen gibt (ich hoffe, das richtig zu erinnern).

Bei Tolkien rutschen die Figuren andauernd in "andere Welten".

In den Erzählungen selber sind es "vergangene Zeiten" oder Ander-Welten, aber außerhalb der Erzählungen sind es Tiefenschichten der Leser.

Jedenfalls sehe das ich so. Auch die Volksmärchen haben andauernd dieses Stilmittel. Dornröschen ist ein normales Königskind - dann aber bricht die Anderwelt in Form von Feen in das Geschehen ein, und das ganze Königreich wird von der Anderwelt dafür bestraft, weil es die "böse Fee" nicht berücksichtigt hat.

Auch bei Tolkien wird fast der ganze Kosmos dafür bestraft, weil die auf der Erde Lebenden mit dem "Bösen" nicht richtig umgehen können - also mit Melkor. Selbst der, der ihn produziert hat - Eru - kann mit seinem eigenen Kind nicht umgehen. Daraus entsteht alles Elend. 

Insofern ist sehr offen, ob Aragorn als Herrscher positiv oder negativ besetzt ist.

Sicherlich will Tolkien der Welt des 20. Jahrhunderts - in der Tolkien gelebt hat - nicht vorschlagen,  ein Königtum von Gottes Gnaden einzurichten.

Vielleicht wollte er durcharbeiten, ob es besser gewesen wäre, wenn es in der Vergangenheit milde Herrscher wie Aragorn gegeben hätte. Aber Streicher ist ja im HdR hilflos, wenn es darauf ankommt (entscheidungsunfähig nach Gandalfs "Tod"). Er ist also letztlich nicht positiv im Roman eingebaut. 

Und sein Köngtum hält ja auch nicht lange. Es zerfällt alles wieder nach seinem Tod, wenn ich mich richtig erinnere. 

Bearbeitet von Alsa
Tippfehler
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Ich habe ja bereits gesagt, daß ich ein großer Befürworter des Thread-Titels bin, da er trotz großer inhaltlicher Nachteile dieser Diskussion zumindest formal eine gewisse Autonomie beschert.

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„Strider sitting in the corner at the inn was a shock, and I had no more idea who he was than had Frodo.“

Es gibt kaum einen Begriff in dieser Diskussion, der durch dieses Zitat nicht verneint würde: Funktion, Komposition, Intention…selbst Autorenschaft.

Es passt natürlich zu Tolkiens berühmter Aussage, dass er „nichts erfunden“ (also konzipiert) habe, sondern nur das aufgriff, was „schon da war.“

Aber womöglich hat Alsa Recht und nicht mal Tolkien konnte Tolkien erfassen. Und wo wir schon am Fundamenterütteln sind: Kann die Literaturwissenschaft sich überhaupt selbst erfassen? Was ist ihre Funktion? Erschafft nicht auch jeder Literaturwissenschaftler beim Lesen der Fachliteratur eine eigene Literaturwissenschaft? Glauben die, die Intersubjektivität für sich gepachtet zu haben?
Und ist die schöpferische Methode, die Tolkien oben beschreibt – falls sie wahr ist – nicht das genauë Gegenteil dieses konstrukivistischen Ansatzes? Der Professor glaubte offenbar an die eine Geschichte, die ihm irgendwie zu Teil wurde.

 

Das große Pendel dieser Diskussion schwingt zwischen postmodernem und romantischem Weltbild hin und her. Bin gespannt, wo es stehen bleibt.

Bearbeitet von Nelkhart
Privat
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In unserer Geschichte gibt es kuriose Zufälle, in der Historië Mittelerdes dagegen finden sich wunderbare Symmetriën. Ein Beispiel dafür sind Arvedui und Aragorn.

Man könnte sagen, Arvedui ist ein gescheiterter Aragorn. Oder anders herum: Bei Aragorn geht Arvedui's Geschichte positiv aus.

Wäre Aragorn aus demselben Holz geschnitzt, wie sein Vorfahre, er hätte mit 20 Jahren in Minas Anor angeklopft und als legitimer Erbe Elendils und Isildurs Anspruch auf den Thron von Gondor erhoben.

Aber aus diesem Holz ist Aragorn nicht. Seine Lebensgeschichte erfüllt von Anfang bis Ende das Ideal des demütigen Regenten, wie Tolkien es sich vorgestellt haben mag. Als Hoffnungsträger Estel geboren, begibt sich der heimliche Thronerbe des freiën Westens freiwillig in den Dienst Rohans und Gondors und macht die Drecksarbeit für andere Herrscher. Immerhin springt dabei für ihn noch eine Ausbildung zum Superhelden seines Zeitalters raus. Doch zur Krönung seiner Bescheidenheit lässt er seine eigene Siegesfeiër sausen, nachdem er die Flotte des Rivalen Umbars unschädlich gemacht hat.

Dann verhilft er dem Ringträger zur Rettung der Welt, kehrt gegen alle Wahrscheinlichkeit als Sieger vom Morannon zurück und verweigert immer noch jeglichen Personenkult. Er wagt es nicht einmal offen, die Stadt zu betreten.
Aragorns Zurückhaltung und Besonnenheit bei der Thronbesteigung Gondors könnte man edelmütig nennen, wäre sie nicht so hoffnungslos überzeichnet. Von Cormallen bis zur Krönungszeremonie am Tor (Sic!) vollführt er einen beispiellosen diplomatischen Eiërtanz, als sei es ihm hochnotpeinlich, der rechtmäßige Erbe der geflügelten Krone zu sein.

Dann dankt er nach langer und wahrscheinlich furchtbar gerechter Regierungszeit ab und verzichtet dabei nicht nur auf die Krone, sondern sogar auf sein Leben. Schwer vorstellbar, daß dieser salomonische Monarch in seinen über 120 Jahren als König irgendwen hingerichtet haben soll.

Nein. Dieser Samtpfoten-Potentat, der Inbegriff des gütigen Königs, taugt nun wirklich nicht zum Widerspruch zur machtskeptischen Grundhaltung im Herrn der Ringe.

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Zitat

 Kann die Literaturwissenschaft sich überhaupt selbst erfassen?

Die Literaturwissenschaft ist ein Abstraktum. Sie kann nicht denken, nicht handeln und sich auch nicht erfassen. 

Das können nur Menschen. 

Zitat

Erschafft nicht auch jeder Literaturwissenschaftler beim Lesen der Fachliteratur eine eigene Literaturwissenschaft?

Der Literaturwissenschaftler beschäftigt sich vor allem mit der Primärliteratur. 

Wenn ein junger Autor auftaucht, der aller bisherigen Literatur etwas Neues hinzufügt - zum Beispiel, als Kafka schrieb oder die Kunstrichtung des Dadaismus entstand -, dann wird die Literaturwissenschaft neu geschrieben.

Zitat

Glauben die, die Intersubjektivität für sich gepachtet zu haben?

Diese Aussage verstehe ich nicht. Als es nur die klassische Dramenform gab - kein Dichter anders schrieb -, da galt sie als Norm. 

Dann aber schrieb ein Autor ein ganz anders Drama. Alle klassischen Mittel waren über Bord geworfen.

Also fügt der Literaturwissenschaftler diese neue Form hinzu. Und stellt fest, dass Shakespeare auch schon bisschen so geschrieben hat. 

 

Zitat

Und ist die schöpferische Methode, die Tolkien oben beschreibt – falls sie wahr ist – nicht das genauë Gegenteil dieses konstrukivistischen Ansatzes? Der Professor glaubte offenbar an die eine Geschichte, die ihm irgendwie zu Teil wurde.

Die Literaturwissenschaft beschäftigt sich mit Texten, nicht mit Glaubensaussagen der Autoren. 

Das Gefühl, dass das, was der Autor schreibt, irgendwie schon da ist, hat vermutlich fast jeder Autor. Das ist Teil des schöpferischen Prozesses.

Die Literaturwissenschaft ist aber keine Religion und keine Psychologie. Sie beschreibt die Methoden, die die Autoren in ihren Werken anwenden. 

Tolkien hat im Übrigen Streicher da in der Ecke als Hobbit gesehen. Später hat er ihn zu einem Menschen gemacht.

Die Erstentwürfe sind bei vielen Autoren impulsiv, spontan und noch ungeordnet. Das Komponieren - und Ändern - kommt dann später. Und Tolkien gehört zu denen, die  am meisten und längsten verworfen und geändert haben. 

Der Begriff "Konstruktivist" passt nicht zu Tolkien, auch wenn er noch so sehr über Jahrzehnte konstruiert hat.  Und ein  Literaturwissenschaftler, der die literarischen Methoden von Autoren untersucht, ist ebenfalls kein Konstruktivist. 

Der Hauptunterschied zwischen Dir und mir scheint mir der zu sein, dass Du den Autor Tolkien verstehen möchtest, während ich die Form seiner literarischen Werke verstehen möchte.

 

 

Bearbeitet von Alsa
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Am 15.12.2018 um 22:37 schrieb Alsa:

Wenn ich immer sage, dass ein Werk funktional untersucht werden muss, dann meine ich damit:

ich vergleiche zum Beispiel die Figuren im "Herr der Ringe" miteinander. Welche Funkton hat Gandalf in  diesem Werk, welche Gollum usw. 

(...)

Ich selber denke, dass es eine Mischung sein kann, wenn man sich die Mühe macht, das Werk - das Werk! nicht den Autor -, zu analysieren. 

Wir waren ja aber bei dem Thema, welche Funktion die Mythologie bei Tolkien hat. Und um das herauszufinden, muss man ja auch interpretieren. Klar ist das eine andere Form der Interpretation als Figureninterpretationen. Aber versteh mich nicht falsch, natürlich ist das ein wichtiger Bestandteil der Literaturwissenschaft. Nur hab ich das Gefühl, dass in der Diskussion hier jeder auf seinem Fleckchen steht und auf und ab springt und wir in der Diskussion Null vorankommen. Ich für meinen Teil hätte den Wunsch, eine Antwort bzw. Tendenz auf die Threadfrage zu finden. 

Deswegen: wenn wir wissen wollen welche Funktion Mythologie bei Tolkien hat, müssen wir ja erstmal die Frage beantworten, inwieweit Tolkien als Autor dies bewusst oder unbewusst angewandt hat bzw. welche Form von Autorenschaft wir Tolkien zusprechen. Denn wie wir ja oben schon gesehen haben, sind wir uns uneins darüber, ob und wie wir Tolkien als Autor verstehen (können wir ihn nachvollziehen, uns in ihn hineinversetzen, hinter seine Motivationen und Gedanken schauen können, ihn von seinem Text trennen, usw.). Darauf zielte mein Beitrag zur Rolle und zum Verständnis von "Autor" ab.

Denn ich für meinen Teil bin mir nicht sicher, ob Tolkien Mythologie in der Weise funktionalisiert, dass es seinem Text bewusst eine größere Deutung gibt. Aber das wäre ja interessant zu diskutieren. Denn du wiederum scheinst den Text ja ohne den Paratext bzw. ohne den Autor zu berücksichtigen zu lesen und verstehen, was ja auch ein interessanter Ansatz ist. Da wäre es dann ja auch interessant, ob die Mythologie in beiden Fällen, in keinem oder in einem Fall eine Funktion trägt und wie diese Funktionen zu unterscheiden sind oder ob sie identisch sind. 

So verstehe ich zumindest das Ziel dieses Threads jetzt. Aber wenn ich das falsch verstanden habe oder kein Interesse an einer Auflösung diese Frage besteht, würde ich mich aus dem Wirrwarr der Theorien und Methoden und Standpunkte der jeweils verschiedenen persönlichen Meinungen ausklinken. 

Am 15.12.2018 um 22:37 schrieb Alsa:

Also gut, Du scheinst wirklich zu glauben, dass jemand das rätselhafte Wesen Mensch, hier Tolkien, enträtseln kann.

Ich rede hier vom Autor. Und der Autor ist ein Abstraktum. Das macht es zwar nicht einfacher, aber auch nicht unmöglich, sich seinem Geiste zu nähern.

Am 15.12.2018 um 22:37 schrieb Alsa:

Der Weltenbau ist in meinen Augen eher naturwissenschaftlich orientiert, die Literaturwissenschaft heute lehnt das meiner Kenntnis nach im Rahmen der . 

Ob Tolkien anderes dachte, als er sagte oder schrieb: das wissen wir nicht. Das heutige Menschenbild geht nicht davon aus, dass der Mensch durch und durch rational ist. Irgendwann sagte mal wer: Das Bewusstsein sei nur die Spitze des Eisberges - der unter Wasser liege und noch unerforscht sei. Davon gehe auch ich aus. . 

Das dürfte der gute Freud gewesen sein. Was sehr interessant ist, wenn du von einem naturwissenschaftlich orientierten Weltenbau ausgehst. 

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vor einer Stunde schrieb Roncalon:

Wir waren ja aber bei dem Thema, welche Funktion die Mythologie bei Tolkien hat.

Das Threadthema heißt ja nun extra:

"Welche Funktion hat die Mythologie Tolkiens?" Du machst daraus: "bei Tolkien".

Das ist eine mögliche Interpretation des Themas. Du und Nelkhart, Ihr interessiert Euch für die Person.

Ich aber eben nicht. Ich interessiere mich nur für das Werk. 

Allerdings hat dann "die Mythologie bei Tolkien" auch für mich eine Relevanz, aber eben nur bezüglich des Werkes. 

Die allgemeinere Themnenformulierung schließt aber auch ein: "die Funktion der Mytholoige Tolkiens bei den Rezipienten". Die Rezipienten, das wären dann die Leser und die Literaturwissenschaftler. 

 

vor einer Stunde schrieb Roncalon:

Und um das herauszufinden, muss man ja auch interpretieren.

Eben. Das ist ja der entscheidende Punkt. Darum sollte möglichst der Interpret selber seine Prämissen auf den Tisch legen. Also gleich zu Beginn darlegen: "Ich interpretiere unter folgenden Annahmen".

Wenn der Interpret selber das nicht kann  - oder nicht sofort kann -, dann macht das ein anderer für ihn. Aus den Analysen nämlich geht deutlich hervor, welche Prämissen er hat. Die legt dann halt der andere auf den Tisch.

Da aber auch der wieder Prämissen hat, kommt ein dritter und puhlt auch dessen Prämissen raus.

Und so wächst und wächst dann eben die Rezeptionsgeschichte des Autors. 

 

vor einer Stunde schrieb Roncalon:

Ich für meinen Teil hätte den Wunsch, eine Antwort bzw. Tendenz auf die Threadfrage zu finden. 

Wir können hier nur sammeln, was jeder für Prämissen hat. Verstehe ich Dich richtig, dass wir uns einigen sollten? Das geht doch nicht. Wir können doch nicht die Vielfalt der Herangehensweisen plattmachen. 

 

vor einer Stunde schrieb Roncalon:

Deswegen: wenn wir wissen wollen welche Funktion Mythologie bei Tolkien hat, müssen wir ja erstmal die Frage beantworten, inwieweit Tolkien als Autor dies bewusst oder unbewusst angewandt hat bzw. welche Form von Autorenschaft wir Tolkien zusprechen.

Wie gesagt: mein Thema ist das nicht. Das konnt Ihr beide hier diskutieren, aber meine Funktion kann dabei allerhöchstens sein, Euer Menschenbild dabei zu entschlüsseln oder das Thema so aufzufassen, das zu sammeln, was Tolkien selber darüber gesagt hat.

Die Psyche Tolkiens zu analysieren: das wäre für mich allerdings ein no-go. Das wäre für mich ein unzulässiger Übergriff. 

 

vor einer Stunde schrieb Roncalon:

Denn ich für meinen Teil bin mir nicht sicher, ob Tolkien Mythologie in der Weise funktionalisiert, dass es seinem Text bewusst eine größere Deutung gibt.

Meine Prämisse ist:

Sobald ein Mensch im Spiel ist, wird alles, was er denkt und tut, zu einer Funktion. Das hat mit Tolkien nur insofern etwas zu tun, als er ein Mensch ist.

Übrigens kann man das bei ihm textlich auch nachweisen. Lies den Märchenaufsatz, und da schreibt Tolkien, welche Funktion er dem Märchen zuteilt. 

Das heißt natürlich noch immer nicht, dass das Märchen wirklich diese Funktion hat, 

 

vor einer Stunde schrieb Roncalon:

Aber das wäre ja interessant zu diskutieren. Denn du wiederum scheinst den Text ja ohne den Paratext bzw. ohne den Autor zu berücksichtigen zu lesen und verstehen, was ja auch ein interessanter Ansatz ist. Da wäre es dann ja auch interessant, ob die Mythologie in beiden Fällen, in keinem oder in einem Fall eine Funktion trägt und wie diese Funktionen zu unterscheiden sind oder ob sie identisch sind. 

Ich glaube, hier liegt die Frage allgemeiner:

Gibt es überhaupt eine menschliche Tätigkeit, mit der der Mensch keine Funktion verbindet und die keine Funktion hat. 

Nach meinem Verstehen ist das menschenunmöglich. Gerade dieses Thema hat mich vor zig Jahren umgetrieben. Und ich bin am Ende zu der Erkenntnis gekommen: Das ist wirklich menschenunmöglich. Ich kann nicht mal atmen, ohne dass das eine Funktion für mich hat. Egal, ob mir das bewusst ist oder nicht. 

Nelkhart hat Recht, wenn er schreibt, dass wir nicht beantworten können, welche Funktion die Entstehung des Weltalls hat. Und dass es auf dieser Ebene möglicherweise auch keine Funktion gibt. 

Aber die Beschäftigung mit Tolkien und seinem Werk ist eine Humanwissenschaft, eine Tätigkeit des Menschen

 

vor einer Stunde schrieb Roncalon:

So verstehe ich zumindest das Ziel dieses Threads jetzt. Aber wenn ich das falsch verstanden habe oder kein Interesse an einer Auflösung diese Frage besteht, würde ich mich aus dem Wirrwarr der Theorien und Methoden und Standpunkte der jeweils verschiedenen persönlichen Meinungen ausklinken.

Wenn es uns keine Freude macht, zu klären, welche Weltanschauung jeder hat und welche Interessen er bei der Arbeit an Tolkien hat, dann höre auch ich hier auf.

Falls dieser Thread nur dazu genutzt wird, die Person Tolkiens zu untersuchen, dann werde ich mich einklinken, um zu widersprechen. Ansonsten würde mich das zu sehr an eine religiöse Vereinigung erinnern, an der man keine Kritik üben darf.

Das kann man in privaten Foren machen - aber sobald es öffentlich ist, werde ich solchen "Kulten" widersprechen müssen. 

 

vor einer Stunde schrieb Roncalon:

Ich rede hier vom Autor. Und der Autor ist ein Abstraktum. Das macht es zwar nicht einfacher, aber auch nicht unmöglich, sich seinem Geiste zu nähern.

Das klingt in meinem Ohren ähnlich wie "sich dem Geist Jesu nähern". 

 

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Tolkien war natürlich kein Konstruktivist. Aber die Auffassung, dass der Leser in seiner Vorstellung erschafft, was er liest, ist auf jeden Fall konstruktivistisch.

Und dieser Lehre nach, kann es die Literaturwissenschaft und den Literaturwissenschaftler gar nicht geben. Die eigene These ernst nehmend, erschafft auch jeder Angehörige dieser Zunft seine eigene Literaturwissenschaft. Denn auch die L. ist Text, der interpretiert wird.

Ich würde mich wahrscheinlich tatsächlich auf die Zweckfreiheit der Kunst berufen und jede Mythologie-Funktion, die Ihr vorbringen könnt, ablehnen.

Trotzdem kann ich Euch helfen, indem auch ich mir ein paar hübsche Mythologie-Funktionen einfallen lasse, die ich dann natürlich auch ablehnen muß.

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vor 2 Stunden schrieb Nelkhart:

Tolkien war natürlich kein Konstruktivist. Aber die Auffassung, dass der Leser in seiner Vorstellung erschafft, was er liest, ist auf jeden Fall konstruktivistisch.

Ich bin kein Konstruktivist, Tolkien war kein Konstruktivist, Du bist kein Konstruktivist, Roncalon wahrscheinlich auch nicht, und weiter schreibt hier keiner.

Warum also versuchst Du die Diskussion auf Begriffe zu lenken, mit denen keiner hier was zu tun hat?

 Und warum gehst Du nicht auf meine Argumente ein, wie ich "Funktion" verstehe und in welchem Sinn ich den Begriff benutze? 

Wenn Du Dich auf die "Zweckfreiheit der Kunst" berufst, dann ist eh dazu kein Wort mehr zu wechseln. Sich auf etwas berufen ist keine Diskussion.

 

 

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Natürlich schreiben hier noch zwei weitere;

@Torshavn und @Berenfox

Ich warte sehnsüchtig darauf, dass Ihr ein paar Gedanken äußert, die uns hier weiterbringen.

Ich antworte manchmal, und es kommt dann keine Reaktion. Das entmutigt mich. 

Vielleicht ist auch die Zeit der Diskussionsforen vorbei, weil die Zeit der Diskussionen vorbei ist?

 

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vor 8 Stunden schrieb Alsa:

Ich antworte manchmal, und es kommt dann keine Reaktion. Das entmutigt mich. 

Oh je, entmutigen wollte ich dich ganz sicher nicht.

Bei mir ist es ein reines Zeitproblem. 3 Tage vor Weihnachten gehört meine volle Aufmerksamkeit meinem Beruf. Vielleicht kann ich am Sonntag ein bißchen was beitragen:-).

Vielleicht können wir ja dennoch etwas klären:

vor 13 Stunden schrieb Nelkhart:

Tolkien war natürlich kein Konstruktivist

 

vor 9 Stunden schrieb Alsa:

Tolkien war kein Konstruktivist,

Was ist in euren Augen ein 'Konstruktivist'?

Irgendwo habe ich mal gelesen, Tolkien habe Mittelerde geschaffen (konstruiert) um eine Heimat für seine erfundenen (konstruierten) Sprachen zu haben.

vor 13 Stunden schrieb Nelkhart:

Aber die Auffassung, dass der Leser in seiner Vorstellung erschafft, was er liest, ist auf jeden Fall konstruktivistisch.

Aber ist das denn nicht normal, das der Leser aus den Infos im Text beim Lesen in seinem Kopf Bilder konstruiert, eine Vorstellung entwickelt von Welt und Personen?

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vor 7 Stunden schrieb Torshavn:

Was ist in euren Augen ein 'Konstruktivist'?

 

Der Konstruktivismus ist eine Kunstform, die vor allem geometrische Formen anwendet. Sie will teilweise alles Gefühlsmäßige aus der Kunst tilgen.

Natürlich "konstruiert" jeder Künstler, und gerade Tolkien tut dies. Die HoMe ist gespickt mit Belegen, der Märchenaufsatz auch.

Aber darum ist er noch lange kein "Konstruktivist". Denn der Konstruktivismus ist eine strenge Kunstlehre mit mitunter sogar ideologischem Gehalt. 

Danke für Deine Überlegungen, Torshavn.

 

Und danke auch an @Berenfox für das Versprechen.  :-) 

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Ein -ist ist meistens der Anhänger eines -ismus.
Der Konstruktivismus, eng verwandt mit Relativismus, Postmodernismus und der Dekonstruktion (so widersprüchlich das klingt) bezieht sich auf eine Weltanschauung, nach der alle menschliche Wahrnehmung durch kulturelle Prägung bedingt ist. Gesellschaften erarbeiten sich im sozialen Diskurs über Generationen hinweg einen Katalog von Regeln und Werten, halten diesen dann aber gerne für die natürlich gegebene Ordnung. Da die Völker der Erde die verschiedensten Wertsysteme konstruïeren, erkennt der Konstruktivismus keine Universaliën an. Jede Kultur und eigentlich jeder Mensch hat eine eigene Wahrheit. In diesem Axiom, das Axiome generell verneinen möchte, liegt dann auch der innere Widerspruch des K.

Tolkien war praktizierender Katholik. Er hat in vielen seiner Briefe deutlich gemacht, daß Gott und die Auferstehung Jesu für ihn absolute Realität sind. Diese Haltung ist nur schwer mit dem Konstruktivismus vereinbar.

Bauleiter, Architekten und Ingenieure konstruïeren ihr ganzes Berufsleben lang, sind deswegen aber noch lange keine Konstruktivisten. Ebenso machen seine erfundenen Sprachen Tolkien vielleicht zum Konstrukteur, aber nicht zum Konstruktivisten. Es geht hier nicht um die Tätigkeit, sondern um das Bekenntnis zur Theorie.

„Aber ist das denn nicht normal, daß der der Leser aus den Infos im Text beim Lesen in seinem Kopf Bilder konstruïert, eine Vorstellung entwickelt von Welt und Personen?“

Das impliziert, daß die konstruktivistische Denkweise unnormal ist. Tatsächlich scheint es so zu sein, daß uns konstruktivistische Prozesse im Bereich von Kunst und Phantasie viel plausibler oder natürlicher (sic!) erscheinen, als auf anderen Gebieten.
Interessant ist die Bemerkung außerdem, da der Radikale Konstruktivismus nicht nur allgemeingültige Deutungen der Phänomene, sondern darüber hinaus auch die Universalität der Phänomene als physikalische Reize verneint. Übertragen auf die konstruktivistische Mode der Literaturwissenschaft hieße das, daß ein radikal konstruktivistischer Literaturwissenschaftler davon ausgehen müßte, daß in jedem einzelnen Exemplar eines Werkes ein anderer Text steht.

Aber Alsa hat schon Recht: Interessant ist das für Konstruktivismus und Literaturwissenschaft – nicht unbedingt für unsere Diskussion.

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vor 17 Minuten schrieb Nelkhart:

Bauleiter, Architekten und Ingenieure konstruïeren ihr ganzes Berufsleben lang, sind deswegen aber noch lange keine Konstruktivisten. Ebenso machen seine erfundenen Sprachen Tolkien vielleicht zum Konstrukteur, aber nicht zum Konstruktivisten.

Genau. 

Also kannst Du doch endlich das Thema Konstruktivismus fallen lassen. 

Es ist OT in diesem Thread.

 

 

 

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Zwei divergierende Definitionen von Konstruktivismus und nicht mal Alsa widerspricht?

Das sollte man vielleicht erklären:
Der Begriff des Konstruktivismus fand zunächst als Gestaltungsprinzip in der russisch/sowjetischen Kunst und Architektur Anwendung, machte dann aber völlig neu gedeutet Mitte des 20. Jahrhunderts in der Erkenntnistheorie Karriëre und ist heute Grundlage praktisch jeder gesellschaftstheoretischen Debatte (Genderdebatte, Rassismus, Postkolonialismus etc.). Offenbar strahlt der epistemologische Aspekt sogar in die Literaturwissenschaft aus.
Eine Abkehr vom Konstruktivismus scheint nun in Sicht zu sein, da sich mittlerweile auch autokratische Staatschefs auf ihn berufen können, indem sie der Welt „alternative Fakten“ präsentieren.

Der Konstruktivismus spielt für diese Diskussion nur soweit eine Rolle, wie Interpretationskonzepte einer konstruktivistisch geprägten Literaturwissenschaft Anwendung finden.

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Jetzt haben die Herrschaften das Thema, das sie unbedingt wollten, aber keiner traut sich als erster auf die Tanzfläche. Nur gut, daß es für solche Auftritte einen Nelkhart gibt.

Beginnen wir doch mit den beiden am häufigsten besprochenen literarischen Funktionen bei Tolkien: Die Mythologie schafft (vom Ringkrieg aus betrachtet) den Eindruck historischer Tiefe im Werk, wodurch Verzauberung glückt.
Und zweitens: Die kleinbürgerlichen Hobbits spielen die Rolle der Vermittler zwischen unserer Welt und Mittelerde.

In letzterem Punkt bin ich noch einen Schritt weiter gegangen:
„Es läßt sich nicht abstreiten, daß Tolkien innerhalb des Legendariums ein bestimmtes Volk mit besonderer Bevorzugung behandelte: die Eldalië. Tatsächlich sind alle Fabelwesen Mittelerdes nur dazu da, um die Besonderheiten der Eldar herausstellen zu können.
Das ist aus literarischer Sicht auch dringend notwendig, denn das Elbenhafte ist zu flüchtig, um es direkt in Worte fassen zu können. Wie jedes gute Mysterium ist das elbische Wesen nicht greifbar und zerbricht schon, wenn man es nur zu benennen versucht.
Um beschreiben zu können, was mit Worten eigentlich nicht zu beschreiben ist, konzipierte der Professor ein System ethnischer Gegensätzlichkeiten, dessen Ausdruckskraft in seiner Indirektheit liegt. Die unterschiedlichen Naturells der Völker Mittelerdes dienen einzig und allein dem Zweck, dem Leser die unaussprechliche Aura der Elben zu vermitteln.

So betont die Kleinbürgerlichkeit der Hobbits die aristokratische Haltung der Elben. Die rohe, industriëlle Technokratie der Orks kontrastiert mit der sanften Naturverbundenheit der Eldar und den trivialen Sorgen der kurzlebigen Menschen und Zwerge steht die exaltierte Ewigkeit der Erstgeborenen gegenüber.
Auf der anderen Seite machen Valar und Maiar die Elben wiederum nahbarer und menschlicher, weil diese ein noch tieferes Geheimnis verkörpern. Und nur dem Wirken Melkors verdanken wir es, die Leidensfähigkeit der Eldar kennen zu lernen, die ihre Geschichte so schön tragisch macht.“

Fast tut es mir ein bißchen Leid für all die Rohirim, Onodrim und Periannath, aber letztendlich spielen die anderen Völker Mittelerdes nur supporting roles, um die Elben in ihrer Verwunschenheit darstellen zu können.

Aber auch wenn diese ersten Anregungen einen gewissen Charme durchaus nicht entbehren, ändert die Argumentation selbstverständlich nichts an meiner grundsätzlichen Auffassung, daß der Begriff „Funktion“ bei Tolkiens weitgehend intuïtiv geprägter Poësieproduktion völlig verfehlt ist.

Spaß macht seine Anwendung trotzdem.

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