Dem kann ich nicht zustimmen. Auch die Bibel ist ein Text, der in einer literarischen, historischen, kulturellen und religiösen Tradition steht. Sie ist nicht unabhängig, sondern gerade abhängig. Jeder Leser verstand sie anders, versteht sie anders und wird sie in Zukunft anders verstehen und es ist fraglich, ob es je zwei Leser geben kann, die dasselbe aus demselben Text machen - vollkommen egal, ob es sich dabei um einen Text handelt, der für einen bestimmten Rezipientenkreis eine gewaltige Bedeutung hat, oder nur für einen Literaturwissenschaftler oder jemanden, der das Werk einfach mal lesen will - Motivationen gibt es genug.
Was genau meinst du eigentlich mit der "Ebene", ab der Vergleiche mit anderer Literatur möglich sind? Wie "hoch" oder "tief" muss man dafür gehen? Was die Bibel ist, kann niemand beantworten - doch die Frage scheint mir auch gar nicht so wichtig.
Ist es nicht wichtiger, zu fragen: Was kann die Bibel jemandem geben und was hat sie möglicherweise Tolkien gegeben, sodass dieser Sexualität in seinem Universum so unter den Tisch fallen lässt?
A priori ist jedes Werk vergleichbar. Wenn es das nicht wäre, dürfte es gar nicht geschrieben worden sein. Da es aber als Text vorliegt, kann man es auch vergleichen.
Zeige mir dies bitte durch Zitate aus dem Silmarillion im Kontext des restlichen Textes und durch Zitate aus der Bibel ebenso im Kontext des restlichen Textes.
Das ist an vielen Stellen diskutiert worden, ich glaube das führt hier insgesamt zu weit. Schau mal >hier rein.
Es reicht nicht. Selbst Tolkien setzt nicht das Maß der Interpretation eines seiner Werke an.
Was reicht deiner Meinung nach dann? Und wer ist dieser Tolkien, dass "selbst er" die Macht hat, die Interpretation eines Lesers so stark zu beeinflussen, dass dessen eigene Leseerfahrung völlig in die Nichtigkeit gerückt werden kann? Wenn ich den Herrn der Ringe als christlich geprägtes Werk lesen möchte, kann mir da ein Herr Tolkien (noch dazu ein längst verstorbener) nicht rein reden. Die Interpretation gehört nicht dem Autor, sondern dem Rezipienten.
"Der Herr der Ringe" ist ein unabhängiges literarisch-dichterisches Werk, das als Werk nichts mit anderen Werken zu tun. Ich wünschte, Dunderklumpen wäre hier. Sie könnte da besser Stellung zu beziehen.
Wäre Dunderklumpen hier, würde sie dir sagen, dass kein Werk unabhängig ist. Was ich oben für die Bibel gesagt habe, gilt selbstverständlich auch für jedes Werk Tolkiens (ja sogar für jeden Schnipsel Papier, auf den er je etwas geschrieben hat). Indem du es als so einzigartig verstehst, dass du es gegen jede Interpretation, jeden Vergleich abhebst, machst du seine Wirkung gleichzeitig zunichte. Denn was soll ich mit einem Text, der mir als Leser nichts geben könnte außer dem, was in ihm ist?
Das bloße Fehlen als Stilmittel zu verstehen, Nelkhart, halte ich dagegen für gewagt. Denn es gibt viele Werke, in denen nichts über die Verdauung von Charakteren gesagt wird. Ist dieses Fehlen auch ein Stilmittel? Wie sieht es mit dem Verschweigen vom Schuhe Zubinden, vom Zähneputzen aus? Sind das alles Stilmittel?
Ich würde dir allerdings zustimmen, dass es ein Schweigen mit großer Wirkung hat: Denn da, wo tatsächlich Lust ins Spiel kommt, an den hier im Thread genannten Stellen, ist es gerade so bemerkenswert und hat eine so gravierende Auswirkung auf die Handlung, dass ich umgekehrt die dortige Betonung als Stil-, oder besser als Handlungsmittel verstehen würde.
Das ist sicher richtig, allerdings kann man auch narratologisch argumentieren, dass Elemente einer Erzählung, die für die Handlung geradewegs irrelevant sind (und der Sex von Aragorn und Arwen, Elrond und Celebrían ist für die Handlung des HdR nun durchaus nicht treibend), ausgeblendet werden. Um mit Gérard Genette zu sprechen: Erzählzeit < erzählte Zeit, das Phänomen der Summary, das bei den meisten modernen Romanautoren zum Tragen kommt, weil es eben die Handlung am effizientesten voran treibt.